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Stellenkommentar GT 11, KSA 1, S. 79-80 243

sehen Ansprüchen“ (August Wilhelm Schlegel: Kritische Schriften und Briefe, hg.
von Edgar Löhner, Bd. V, S. 105). Aufgrund einer fragwürdigen Auffassung von
der Stoffgebundenheit der Poesie glaubte Karl Otfried Müller in seiner Geschichte
der griechischen Literatur (Bd. 2, Kapitel 25, S. 144) feststellen zu können, Euripi-
des habe sich infolge seiner „philosophischen Interessen“ „in einer sonderbaren
schiefen Stellung gegen die Objecte seiner Poesie“ befunden. Das heißt zugleich,
daß eine aufklärerische oder überhaupt eine philosophisch fundierte Geisteshal-
tung zu einer Poesie, die vollgültig Poesie sein will, nicht passe.
80, 22 ähnlich wie bei Lessing] In einer langen Tradition, die von Lessing
selbst ausgeht, galt dieser seiner Hauptbegabung nach eher als Kritiker, weni-
ger oder gar nicht als genuiner Dichter. Im 101.-104. Stück der Hamburgischen
Dramaturgie schreibt er:
Ich bin weder Schauspieler, noch Dichter. Man erweiset mir zwar manchmal die Ehre,
mich für den letztem zu erkennen. Aber nur, weil man mich verkennt. Aus einigen drama-
tischen Versuchen, die ich gewagt habe, sollte man nicht so freigebig folgern. Nicht jeder,
der den Pinsel in die Hand nimmt, und Farben verquistet, ist ein Maler. Die ältesten von
jenen Versuchen sind in den Jahren hingeschrieben, in welchen man Lust und Leichtigkeit
so gern für ein Genie hält. Was in den neuerem erträgliches ist, davon bin ich mir sehr
bewußt, daß ich es einzig und allein der Critik zu verdanken habe. Ich fühle die lebendige
Quelle nicht in mir, die durch eigene Kraft sich empor arbeitet, durch eigene Kraft in so
reichen, so frischen, so reinen Strahlen aufschießt: ich muß alles durch Druckwerk und
Röhren aus mir herauf pressen. Ich würde so arm, so kalt, so kurzsichtig sein, wenn ich
nicht einigermaßen gelernt hätte, fremde Schätze bescheiden zu borgen, an fremdem
Feuer mich zu wärmen, und durch die Gläser der Kunst mein Auge zu stärken. Ich bin
daher immer beschämt oder verdrüßlich geworden, wenn ich zum Nachteil der Critik
etwas las oder hörte. Sie soll das Genie ersticken: und ich schmeichelte mir, etwas von
ihr zu erhalten, was dem Genie sehr nahe kömmt. Ich bin ein Lahmer, den eine Schmäh-
schrift auf die Krücke unmöglich erbauen kann.
Doch freilich; wie die Krücke den [sic] Lahmen wohl hilft, sich von einem Orte zum
andern zu bewegen, aber ihn nicht zum Läufer machen kann: so auch die Critik (Gotthold
Ephraim Lessing: Werke und Briefe in zwölf Bänden, hg. von Wilfried Barner, Bd. 6: Werke
1767-1769, hg. von Klaus Bohnen, Frankfurt 1985, S. 680 f.).
80, 28-33 Und hier nun war ihm begegnet, was dem in die tieferen Geheimnisse
der aeschyleischen Tragödie Eingeweihten nicht unerwartet sein darf: er
gewahrte etwas Incommensurables in jedem Zug und in jeder Linie, eine gewisse
täuschende Bestimmtheit und zugleich eine räthselhafte Tiefe, ja Unendlichkeit
des Hintergrundes] Da N. die Tragödien des Aischylos noch in die Nähe des
,dionysischen4 Ursprungs rückt, evoziert er Geheimnis und Einweihung - Vor-
stellungen, die er schon früher mit dem ,Dionysischen4, insbesondere mit den
Dionysos-Mysterien verbindet. Zugleich bringt er die auf die Tragödie proji-
zierte Konstellation Apollinisch - Dionysisch zur Geltung, indem er „eine
 
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