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Schmidt, Jochen; Nietzsche, Friedrich; Heidelberger Akademie der Wissenschaften [Mitarb.]
Historischer und kritischer Kommentar zu Friedrich Nietzsches Werken (Band 1,1): Kommentar zu Nietzsches "Die Geburt der Tragödie" — Berlin, Boston: De Gruyter, 2012

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https://doi.org/10.11588/diglit.70910#0278
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Stellenkommentar GT 12, KSA 1, S. 84-85 257

,Tugend4 lehrbar sei, wie dies die Sophisten behaupteten. Der an das gleiche
Problem anknüpfende Dialog Menon beginnt mit den Fragen: „Kannst du mir
sagen, Sokrates, ist die Tugend lehrbar? Oder ist sie nicht lehrbar, sondern
eine Sache der Übung? Oder ist sie weder eine Sache der Übung noch des
Lernens, sondern etwas, das den Menschen von Natur oder auf irgendeine
Weise sonst zuteil wird?“ Der Hintergrund dieser Auseinandersetzung ist die
Lehrpraxis der Sophisten. Sie behaupteten, die ,Tugend4 als ein objektivierba-
res Wissen bestimmen und daher ihren Schülern beibringen zu können. Der
frühe Dialog Protagoras verläuft aporetisch, da es den Dialogpartnern Protago-
ras und Sokrates nicht gelingt, die beiden Begriffe ,Wissen4 und ,Tugend4 ein-
deutig zu definieren und zueinander ins Verhältnis zu setzen. Kunstvoll steigert
Platon die Aporie, indem er am Ende die gegensätzlichen Positionen des Sokra-
tes und des Protagoras dialektisch ins jeweilige Gegenteil umschlagen läßt. N.s
apodiktische Formulierung wird diesem aporetischen Duktus sowenig gerecht
wie dem methodisch, nämlich als Offenheit für weiteres Fragen zu verstehen-
den Nichtwissen, das sich im berühmten Ausspruch des Sokrates verdichtet:
„Ich weiß, daß ich nichts weiß“.
Der Dialog Menon eröffnet mit dem Konzept der Anamnesis zwar eine neue
ontologische und erkenntnistheoretische Dimension (die N. ganz außer Acht
läßt), endet aber im Hinblick auf die ,Tugend4 im Unbestimmten: „Das
Bestimmtere darüber werden wir aber erst wissen, wenn wir [...] zuvor und für
sich wissen, was die Tugend ist“. So problematisch N.s einfache Gleichsetzung
von Tugend und Wissen im Hinblick auf Sokrates und auch auf die entspre-
chenden Erörterungen in Platons Protagoras und bei Aristoteles (Nikomachi-
sche Ethik VI 13, 1144b) ist, so muß doch bedacht werden, daß er selbst keine
vertiefte Kenntnis der Texte anstrebte und in den geläufigen Darstellungen
überall auf die vereinfachende Formel „Tugend = Wissen“ stieß. So beginnt
die Darstellung des Sokrates in einem Lieblingsbuch N.s, in Friedrich Albert
Langes Geschichte des Materialismus (1866) sogleich mit der lapidaren Feststel-
lung: „Sokrates erklärte die Tugend für ein Wissen“ (Erster Abschnitt, III.
Kapitel).
In einer Notiz vom Herbst 1869 spricht N. nicht vom Wissen, sondern vom
Bewußtsein, zugleich vom „Rationalismus“ (NL 1869, KSA 7, l[106], 41, 6-11):
„In Socrates der naive Rationalismus in dem Ethischen. Alles muß
bewußt sein, um ethisch zu sein. / Euripides ist der Dichter dieses naiven
Rationalismus. Feind allem Instinktiven, sucht er das Absichtliche und
Bewußte“.
85, 9 Mit diesem Kanon in der Hand] Den Begriff „Kanon“ verwendet N. hier
noch in der ursprünglichen Bedeutung von ,Maßstab4, ,Richtschnur4, ,Modell4.
 
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