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256 Die Geburt der Tragödie

tische und antinaturalistische Positionen in der hochklassischen Phase an, in
der beide unter dem Eindruck des seit 1789 alles erschütternden Revolutionsge-
schehens für die Autonomie der Kunst plädierten.
Als Quelle im engeren Sinn für N.s Kritik am ,Realismus4 des Euripides ist
außer Aristophanes und A. W. Schlegel der von N. herangezogene Grundriß der
Griechischen Litteratur von Gottfried Bernhardy (Zweiter Theil, Halle 1845) zu
nennen. Darin konnte er u. a. lesen (S. 855): „Da nun hier nicht mehr das
Schicksal sondern der Mensch [...] waltete, so büßten die Charaktere des
Euripides das machtvolle Pathos und den erhabenen Schwung einer physisch
überkräftigen Vorzeit ein, woraus sich die tragische Handlung erzeugt hatte
[...] sie gelten als bloße Repräsentanten der gemeinen Wirklichkeit“.
85, 4-7 so werden wir jetzt dem Wesen des aesthetischen Sokratismus
schon näher treten dürfen; dessen oberstes Gesetz ungefähr so lautet: „alles
muss verständig sein, um schön zu sein“] In der Tragödienvorlesung vom Som-
mer 1870 hatte N. noch anders formuliert: „es soll alles verständig sein, damit
alles verstanden werden könne“ (KGW II 3, 44). Er fährt fort: „Kein Raum für
den Instinkt“. Zwar ist der „aesthetische Sokratismus“ ein Konstrukt N.s, aber
Reflexion, Rationalität und Intellektualität sind durchaus Grundzüge des Euri-
pides, wie N. auch in dem von ihm benutzten Standardwerk von Gottfried
Bernhardy: Grundriß der Griechischen Litteratur, Zweiter Theil, Halle 1845,
S. 828, lesen konnte. „Von Natur aus empfindsam und beschaulich“, so Bern-
hardys treffende Charakterisierung, „nahm er die Richtung zur Reflexion,
namentlich zur anthropologischen [d. h.: nicht theologischen oder von der
herkömmlichen Religion bestimmten] Auffassung in einer Schule, deren leiten-
des Motiv die Intelligenz war; seine Zeit bot ihm ein rationelles Prinzip, die
Subjektivität und die daraus fließende Berechtigung oder den unbedingten
Werth des Gewissens, worin selbst Sokrates und die Sophisten von verschiede-
nen Wegen her zusammentrafen“.
85, 7 f. als Parallelsatz zu dem sokratischen „nur der Wissende ist tugendhaft.“]
Indem N. diesen Satz mit der dem Euripides unterstellten Maxime „alles muss
verständig sein, um schön zu sein“ parallelisiert, schreibt er Sokrates einen
rationalistisch-eindimensionalen Wissensbegriff zu; überdies trifft das deut-
sche Wort „tugendhaft“ nicht die Bedeutung, die dem griechischen Begriff der
Arete zukommt. Die Frage, ob sittliche Vollkommenheit, und zwar eine, die
sich im Handeln auf allerbeste Weise bewährt, ein Wissen zur Voraussetzung
habe - ein einheitliches Wissen, verschiedene Formen praktischen Wissens
oder ein wissendes Verhalten - und ob der Begriff der Tugend selbst überhaupt
konsistent zu bestimmen sei, ist das Thema im Protagoras, einem der frühen
Dialoge Platons. Mit dem Problem des Wissens verbindet sich die Frage, ob die
 
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