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Stellenkommentar GT 12, KSA 1, S. 84-85 255

Keller und Fontane, wandten sich programmatisch der von N. in GT verachte-
ten ,Wirklichkeit4 zu, wobei Flaubert in Madame Bovary (1857) und Keller im
Grünen Heinrich (1855) besonders deutlich die Abwehrreaktion auf Romantik
und Idealismus zeigten. Keller richtete sich mit seinem Roman auch gegen eine
von der Erfahrungswirklichkeit abgelöste Kunst- und Künstlerideologie, wie sie
N. noch in GT vertritt. Aber bei Flaubert, in Kellers Alterswerken und bei Fon-
tane verrät sich, wie schon beim späten Heine, bereits ein Leiden am drohen-
den Aufgehen in einer bloß noch alltäglichen Durchschnittsrealität. „La medio-
crite“ - das ist Flauberts Gespenst wie dasjenige N.s, der in seiner Übertragung
der zeitgenössischen Problematik auf Euripides dessen vermeintliches Plädo-
yer für die „Mittelmäßigkeit“ attackiert (77, 14 f.: „Die bürgerliche Mittelmässig-
keit“; vgl. den Kommentar hierzu).
In der Philosophie zeigte sich die gleiche Tendenz. Auf die Geistphiloso-
phie des deutschen Idealismus folgte eine Hinwendung zum Gesellschaftlich-
Konkreten, zum Realen und „positiv“ Erfahrbaren. Im Anschluß an die älteren
Denkmodelle Condorcets und Saint-Simons hatte Auguste Comte in seiner wir-
kungsreichen Rede über den Positivismus (Discours sur l’esprit positif, 1844) ein
geschichtliches Dreistufenschema entwickelt: auf das theologische (fiktive)
und metaphysische (abstrakt-idealistische) Stadium folge nun das Zeitalter des
„positiven“ (wissenschaftlichen) Geistes. „Positiv“ nennt Comte das Tatsächli-
che im Gegensatz zum bloß Eingebildeten. Feuerbach wollte in seiner „anthro-
pologischen Reduktion“ den Menschen aus den religiös-metaphysischen
Selbstentfremdungen in ein von ihm selbst bestimmtes und in sich erfülltes
Dasein zurückholen. Marx beabsichtigte bekanntlich, Hegel „vom Kopf auf die
Füße zu stellen“. Trotz gewisser antimetaphysischer Reflexe in GT geht N. erst
später vom Ende aller idealistischen „Hinterwelten“ aus. Speziell irritiert zeigte
er sich durch die zu seiner Zeit vielgelesenen Schriften des von ihm immer
wieder genannten John Stuart Mill (1806-1873), der sich auf wissenschaftliche
Empirie berief (System of Logic, Ratiocinative and Inductive: Being a Connected
View of the Principles of Evidence and the Methods of Scientific Investigation,
1843) sowie das schon von Jeremy Bentham (1748-1832) propagierte Nützlich-
keitsprinzip in seinem Utilitarianism philosophisch untermauerte.
Im Horizont dieser Abwehrreaktion N.s gegen den zeitgenössischen Realis-
mus4, den Naturalismus und gegen die „rationalistische Methode“ (85, 17),
für die er in antikisierender Rückprojektion den „Sokratismus“ verantwortlich
macht, erhalten auch sekundäre Elemente ihre Funktion. N. wendet sich in
GT immer wieder gegen die aristotelische Tragödien-Theorie, so wenn er das
aristotelische Mimesis-Postulat ablehnt und in der hier zu erörternden Partie
die „höchst realistisch nachgemachte [n]44 Gedanken und Affekte des Euripides
aufs Korn nimmt (84, 33 f.); auch knüpft er an Goethes und Schillers antirealis-
 
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