254 Die Geburt der Tragödie
„Gedanken“ sowie den bloß äußerlich inszenierten „Affecten“ entgegen. Noch
deutlicher formuliert er in seiner Tragödienvorlesung vom Sommersemester
1870 den Gegensatz zwischen einer „triebartig“ legitimierten älteren Tragödie
und einer bei Euripides festgestellten Degeneration zum bloßen „Denken“:
„Die Trag, des Euripid. ist der Gradmesser des ethisch-politisch
aesthetischen Denkens jener Zeit: im Gegensatz zu der triebartigen Entwick-
lung der älteren Kunst, die bei Soph. ihr Ende nimmt. Soph. ist die Übergangs-
gestalt; das Denken bewegt sich noch auf der Bahn des Triebes, darum ist er
Fortsetzer des Aeschyl. Mit Eurip. entsteht ein Riß“ (KGW II 3, 42 f.).
84, 33-85, 4 höchst realistisch nachgemachte, keineswegs in den Aether der
Kunst getauchte Gedanken und Affecte. [...] dass sich vielmehr seine undionysi-
sche Tendenz in eine naturalistische und unkünstlerische verirrt hat] Diese Pole-
mik hat ihren historischen Hintergrund in der zeitgenössischen Realismus- und
Naturalismus-Debatte, an der sich N. hier indirekt, aber vehement beteiligt.
Die Realisten und mehr noch die Vertreter des gerade erst heraufkommenden
Naturalismus orientierten sich an der ,Wirklichkeit4 des menschlichen, insbe-
sondere des gesellschaftlichen Lebens sowie an der biologischen und histori-
schen Determination des Menschen. Deshalb wandten sie sich gegen romanti-
sche, idealistische und ,metaphysische4 Konzepte, zu denen sich N. in dieser
Frühphase seiner schriftstellerischen Laufbahn noch weitgehend bekennt. Die
Naturalisten brachten auch neue soziologische und naturwissenschaftliche
Erkenntnisse zur Geltung, während N. in GT noch für die Autonomie der Kunst,
des „Genius“ und überhaupt des geistigen Lebens kämpft und die „Wirklich-
keit“ verachtet. Ein Schüler des Positivisten Auguste Comte, Hippolyte Taine
(1828-1893), mit dem N. später im Austausch stand, hatte in seiner 1863 veröf-
fentlichten Histoire de la litterature anglaise den berühmt gewordenen Satz
geschrieben: „Le vice et la vertu sont des produits comme le vitriol et le Sucre“
(Histoire de la litterature anglaise, Tome premier, Paris 1863, S. XV). Was für
die Moral gilt, gilt analog auch für das geistige Leben. Es hat keinerlei Authen-
tizität, sondern ist Produkt der Realfaktoren. Taine nennt in der gleichen Lite-
raturgeschichte drei ausschlaggebende Realfaktoren: die Rasse, das Milieu und
die Zeit („la race, le milieu et le moment“, S. XXIIf.).
Schon lange vor den radikalen naturalistischen Konsequenzen, die gerade
in der Zeit von N.s schriftstellerischen Anfängen gezogen wurden und durch
Darwins biologische Forschungen enorme Aktualität erhielten, hatte sich eine
Wende angebahnt. Nach dem Ende von Romantik und Idealismus und in Reak-
tion darauf hatte diese ,realistische4 Wende bei einer ganzen Reihe von Schrift-
stellern begonnen, die sich der konkreten gesellschaftlichen Wirklichkeit stell-
ten und sie zum Gegenstand ihres künstlerischen Engagements machten, so
Heine und Büchner. Große Schriftsteller des Realismus wie Flaubert, Gottfried
„Gedanken“ sowie den bloß äußerlich inszenierten „Affecten“ entgegen. Noch
deutlicher formuliert er in seiner Tragödienvorlesung vom Sommersemester
1870 den Gegensatz zwischen einer „triebartig“ legitimierten älteren Tragödie
und einer bei Euripides festgestellten Degeneration zum bloßen „Denken“:
„Die Trag, des Euripid. ist der Gradmesser des ethisch-politisch
aesthetischen Denkens jener Zeit: im Gegensatz zu der triebartigen Entwick-
lung der älteren Kunst, die bei Soph. ihr Ende nimmt. Soph. ist die Übergangs-
gestalt; das Denken bewegt sich noch auf der Bahn des Triebes, darum ist er
Fortsetzer des Aeschyl. Mit Eurip. entsteht ein Riß“ (KGW II 3, 42 f.).
84, 33-85, 4 höchst realistisch nachgemachte, keineswegs in den Aether der
Kunst getauchte Gedanken und Affecte. [...] dass sich vielmehr seine undionysi-
sche Tendenz in eine naturalistische und unkünstlerische verirrt hat] Diese Pole-
mik hat ihren historischen Hintergrund in der zeitgenössischen Realismus- und
Naturalismus-Debatte, an der sich N. hier indirekt, aber vehement beteiligt.
Die Realisten und mehr noch die Vertreter des gerade erst heraufkommenden
Naturalismus orientierten sich an der ,Wirklichkeit4 des menschlichen, insbe-
sondere des gesellschaftlichen Lebens sowie an der biologischen und histori-
schen Determination des Menschen. Deshalb wandten sie sich gegen romanti-
sche, idealistische und ,metaphysische4 Konzepte, zu denen sich N. in dieser
Frühphase seiner schriftstellerischen Laufbahn noch weitgehend bekennt. Die
Naturalisten brachten auch neue soziologische und naturwissenschaftliche
Erkenntnisse zur Geltung, während N. in GT noch für die Autonomie der Kunst,
des „Genius“ und überhaupt des geistigen Lebens kämpft und die „Wirklich-
keit“ verachtet. Ein Schüler des Positivisten Auguste Comte, Hippolyte Taine
(1828-1893), mit dem N. später im Austausch stand, hatte in seiner 1863 veröf-
fentlichten Histoire de la litterature anglaise den berühmt gewordenen Satz
geschrieben: „Le vice et la vertu sont des produits comme le vitriol et le Sucre“
(Histoire de la litterature anglaise, Tome premier, Paris 1863, S. XV). Was für
die Moral gilt, gilt analog auch für das geistige Leben. Es hat keinerlei Authen-
tizität, sondern ist Produkt der Realfaktoren. Taine nennt in der gleichen Lite-
raturgeschichte drei ausschlaggebende Realfaktoren: die Rasse, das Milieu und
die Zeit („la race, le milieu et le moment“, S. XXIIf.).
Schon lange vor den radikalen naturalistischen Konsequenzen, die gerade
in der Zeit von N.s schriftstellerischen Anfängen gezogen wurden und durch
Darwins biologische Forschungen enorme Aktualität erhielten, hatte sich eine
Wende angebahnt. Nach dem Ende von Romantik und Idealismus und in Reak-
tion darauf hatte diese ,realistische4 Wende bei einer ganzen Reihe von Schrift-
stellern begonnen, die sich der konkreten gesellschaftlichen Wirklichkeit stell-
ten und sie zum Gegenstand ihres künstlerischen Engagements machten, so
Heine und Büchner. Große Schriftsteller des Realismus wie Flaubert, Gottfried