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Schmidt, Jochen; Nietzsche, Friedrich; Heidelberger Akademie der Wissenschaften [Mitarb.]
Historischer und kritischer Kommentar zu Friedrich Nietzsches Werken (Band 1,1): Kommentar zu Nietzsches "Die Geburt der Tragödie" — Berlin, Boston: De Gruyter, 2012

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https://doi.org/10.11588/diglit.70910#0290
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Stellenkommentar GT 12, KSA 1, S. 87-88 269

aberranter Weise, denn die athenischen Richter können ebensowenig mit
„Mänaden“ verglichen werden wie der Tod des Sokrates mit der Zerstückelung
des Orpheus durch die rasenden Weiber im Gefolge des Dionysos. Daß der
„übermächtige Gott“ Dionysos doch von seinem Gegner (Sokrates) „zur Flucht“
genötigt wurde, entspricht auf der entmetaphorisierten, eigentlichen Ebene der
Aussage-Intention: der Diagnose, derzufolge in der Geschichte der Tragödie die
„sokratische“ Tendenz, die sich am stärksten bei Euripides ausprägte, schließ-
lich über den „dionysischen“ Ursprung siegte.
88, 4-8 doch den übermächtigen Gott selbst zur Flucht nöthigt: welcher, wie
damals, als er vor dem Edonerkönig Lykurg floh, sich in die Tiefen des Meeres
rettete, nämlich in die mystischen Fluthen eines die ganze Welt allmählich über-
ziehenden Geheimcultus.] In einer Partie der Ilias, dem ältesten literarischen
Zeugnis, in dem Dionysos erwähnt wird, ist von dieser Flucht des Dionysos,
der als Gott des Wahnsinns „der Rasende“ heißt, vor dem König Lykurgos die
Rede, als dieser ihn und sein weibliches Gefolge („die Ammen“) verfolgt (Ilias,
6. Gesang, V. 130-140, in der Übersetzung von Johann Heinrich Voß):
Nicht des Dryas Erzeugter einmal, der starke Lykurgos,
Lebete lang, als gegen des Himmels Mächt’ er gestrebet,
Welcher vordem Dionysos’ des Rasenden Ammen verfolgend
Scheucht’ auf dem heiligen Berge Nysseion; alle zugleich nun
Warfen die laubigen Stäbe dahin, da der Mörder Lykurgos
Wild mit dem Stachel sie schlug; auch selbst Dionysos voll Schreckens
Taucht’ in die Woge des Meers, und Thetis nahm in den Schoß ihn,
Welcher erbebt’, angstvoll vor der drohenden Stimme des Mannes.
Jenem zürnten darauf die ruhig waltenden Götter,
Und ihn blendete Zeus der Donnerer; auch nicht lange
Lebt’ er hinfort; denn verhaßt war er allen unsterblichen Göttern.
Diesen Mythos von der Flucht des Dionysos in die „Tiefen des Meeres“ benutzt
N., um metaphorisch die Entstehung der gewissermaßen unter der Oberfläche
der Kultur sich ausbreitenden Dionysos-Mysterien zu verdeutlichen: des
„Geheimcultus“, der die „ganze Welt“ allmählich überzog. Die behauptete zeit-
liche Abfolge - die Dionysos-Mysterien seien erst entstanden, nachdem die
„dionysische“ Tragödie und mit ihr die öffentlichen Dionysosfeiern verschwun-
den gewesen seien - trifft nicht zu, denn schon im 5. Jahrhundert v. Chr.,
also gerade in der Zeit der großen Tragödiendichtung, sind auch die Dionysos-
Mysterien gut bezeugt, so beispielsweise von Herodot (IV 79), von Sophokles
(Antigone, V. 118-120), von Aristophanes (Frösche, V. 314 ff.). Aus den Versen
des Sophokles und des Aristophanes geht die enge Verbindung der Dionysos-
 
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