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Schmidt, Jochen; Nietzsche, Friedrich; Heidelberger Akademie der Wissenschaften [Mitarb.]
Historischer und kritischer Kommentar zu Friedrich Nietzsches Werken (Band 1,1): Kommentar zu Nietzsches "Die Geburt der Tragödie" — Berlin, Boston: De Gruyter, 2012

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https://doi.org/10.11588/diglit.70910#0302
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Stellenkommentar GT 14, KSA 1, S. 91 281

Erotiker“ bezeichnet werden. Sokrates selbst erklärt nach der Darstellung der
ihm von Diotima vermittelten Eros-Lehre: „ich selbst halte alles Erotische in
Ehren, und mit Vorliebe übe ich mich darin und ermuntere die anderen dazu;
jetzt und allzeit preise ich die männliche Kraft des Eros, so viel ich es vermag“
(121b).
91, 29-33 Der sterbende Sokrates wurde das neue, noch nie sonst
geschaute Ideal der edlen griechischen Jugend: vor allen hat sich der typische
hellenische Jüngling, Plato, mit aller inbrünstigen Hingebung seiner Schwärmer-
seele vor diesem Bilde niedergeworfen.] Der im Jahr 427 v. Chr. geborene Platon
entstammte einem angesehenen Athener Adelsgeschlecht - auch aus diesem
Grund kann ihn N. zur „edlen“ griechischen Jugend zählen. Um 407 wurde
Platon Schüler des Sokrates, also etwa acht Jahre vor dessen Tod. Die Früh-
Dialoge Verteidigung des Sokrates, Kriton und der etwas spätere Phaidon krei-
sen um die Verurteilung und das Sterben des Sokrates. Eine „Schwärmerseele“
ist Platon für N., wie schon für manche vor ihm (Kant nannte in seiner Schrift
Von einem neuerdings erhobenen vornehmen Ton in der Philosophie, AA VIII,
398, Platon den „Vater aller Schwärmerei in der Philosophie“) vor allem im
Hinblick auf die zuerst im Symposion, dann in der Politeia und anderen Schrif-
ten entwickelte Ideen-Lehre. In N.s Spätschriften wird dieser platonische Idea-
lismus zu einem Hauptangriffsziel.
Zu der Vorstellung, Platon habe sich „mit aller inbrünstigen Hingebung [...]
vor diesem Bilde niedergeworfen“, wurde N. durch den Anblick eines Gemäldes
inspiriert, das die Passion Christi darstellt - traditionell befinden sich am Fuße
des Kreuzes, an dem Jesus stirbt, seine Mutter Maria und der Lieblingsjünger
Johannes (mit dem N. implizit den jungen Platon vergleicht). In Aufzeichnun-
gen, die der Reinschrift dieser Zeilen vorangehen, heißt es: „niedergeworfen
mit Gebaerden, die uns an den heiligen Johannes in der großen Passion des
Luini erinnern“ (KSA 14, 52). N. sah das monumentale Freskobild, das Bernar-
dino Luini 1529 in der Kirche S. Maria degli Angili in Lugano malte, wahr-
scheinlich während seines Aufenthalts in Lugano im Frühjahr 1871. Jacob
Burckhardt ging in seinem Cicerone, den N. in seiner persönlichen Bibliothek
hatte, auf dieses Gemälde ein.
14. Kapitel
Dieses Kapitel führt in einer ersten Partie (92, 2-95, 3) die bei Sokrates und
Platon beobachtete Ablehnung der Tragödie und der Kunst überhaupt im
Namen eines philosophisch-„logischen“ Denkens vor und geht genauer auf
Platons spannungsreiches Verhältnis zur Poesie ein; in einer zweiten Partie
 
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