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282 Die Geburt der Tragödie

(95, 5-95, 31) behauptet N., daß sich der Verfall der Tragödie durch die zuneh-
mende „antidionysische“ Dominanz der von den Schauspielern bestimmten
„Bühnenwelt“ gegenüber der musikalischen Sphäre des Chors schon bei
Sophokles abzeichne; zugleich bekräftigt er seine schon früher ausgedrückte
Ablehnung des Aristoteles, der in seiner Poetik dem Chor (in N.s Lesart: der
Musik) zugunsten der Bühnenhandlung eine nur marginale Bedeutung zumißt;
in der dritten Partie (95, 30-96, 32) bereitet N. die Wendung vor, die er dann
in den folgenden Kapiteln bis zur These eines „Umschlags“ fortführt: Sokrates
habe, indem er sein logisches, gegen die Kunst gerichtetes Denken bis zum
Äußersten trieb, eine Grenze erreicht, an der er ein Defizit spürte, weshalb er
sich der bisher verschmähten Kunst zuwandte.
Die häufigen Nennungen Platons und die zahlreichen Zitate aus seinen
Dialogen in diesem Kapitel sind durch das leitende Interesse an Platons Ver-
hältnis zur Dichtung, insbesondere zur Tragödie bedingt, ferner durch das
übergreifende Interesse an Sokrates, dessen Gestalt und geistiges Wirken Pla-
ton in den Mittelpunkt rückt. Im Wintersemester 1871/72, also unmittelbar nach
Abschluß der im Oktober 1871 zum Verlag gegebenen Tragödienschrift, hielt N.
die dreistündige Vorlesung: Einleitung in das Studium der platonischen Dialoge.
92, 2 f. Denken wir uns jetzt das eine grosse Cyklopenauge des Sokrates auf die
Tragödie gewandt] Im Zentrum des in Homers Odyssee dargestellten Abenteu-
ers auf der Zyklopen-Insel (9. Gesang) steht die Begegnung des Odysseus mit
dem menschenfressenden Riesen Polyphem, der auf der Mitte der Stirn nur ein
einziges großes Auge hat. Odysseus rettet sich und einige seiner Gefährten,
indem er dem schlafenden Riesen dieses Auge aussticht und ihn damit der
Orientierung beraubt. N. bedient sich dieser Geschichte, um mit der ,Einäugig-
keit‘ metaphorisch das - vermeintlich - eindimensionale logische Denken des
Sokrates zu bezeichnen.
92, 3 f. der holde Wahnsinn künstlerischer Begeisterung] Von den vier Arten
„göttlichen Wahnsinns“ (0cia pavia) teilt Platon eine dem dichterischen Wahn-
sinn und den Musen zu: Phaidros 265a-b: „Den göttlich bewirkten Wahnsinn
aber haben wir nach vier Göttern in vier Arten eingeteilt, indem wir die wahr-
sagerische Inspiration dem Apollon zuwiesen, dem Dionysos die mysterien-
hafte, dann den Musen die dichterische, die vierte aber der Aphrodite mit dem
Eros“.
92, 7 f. in der „erhabenen und hochgepriesenen“ tragischen Kunst, wie sie Plato
nennt] Gorgias 502b 1: „Wie steht es um die verehrungswürdige und wunder-
volle Tragödiendichtung (t( öe öp p ospvp ainp Kai Oavpacrrp, p Tpq Tpaywöiaq
noipaiq), wonach strebt sie?“ Diese Frage stellt Sokrates seinem Gesprächspart-
ner Kallikles in ironischer Weise. Denn aus der anschließenden Diskussion
 
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