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Schmidt, Jochen; Nietzsche, Friedrich; Heidelberger Akademie der Wissenschaften [Mitarb.]
Historischer und kritischer Kommentar zu Friedrich Nietzsches Werken (Band 1,1): Kommentar zu Nietzsches "Die Geburt der Tragödie" — Berlin, Boston: De Gruyter, 2012

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https://doi.org/10.11588/diglit.70910#0304
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Stellenkommentar GT 14, KSA 1, S. 92 283

geht hervor, daß die Tragödiendichtung weder „wahr noch nützlich“ sei, son-
dern es nur „auf das Vergnügen und das Wohlgefallen der Zuhörer“ absehe,
folglich bloß der „Schmeichelei“ diene. „Schmeichelei“ ist in diesem Kontext
der Leitbegriff bei der Abwertung der Dichtung überhaupt und insbesondere
der Tragödie - „Schmeichelei“ im Sinn von „Gefallen erregen“ (5O2d 7 f: koAcx-
KtKpv ydp avTpv cpapev elvat - „denn wir bezeichnen sie als Schmeichelei“).
Daran schließt N. alsbald an: „Wie Plato, rechnete er [Sokrates] sie zu den
schmeichlerischen Künsten“ (92, 24 f.).
92, 8-12 Etwas recht Unvernünftiges [...] einer besonnenen Gemüthsart [...] ein
gefährlicher Zunder] Nach Platon, Politeia 605c-607a. In dieser Partie argumen-
tiert Platon durchgehend gegen die Poesie, besonders gegen die auf starke
Gefühlserregung abzielende tragische Dichtung, indem er Emotionen generell
als schädlich darstellt, da sie die Vernunft zerstören und die Menschen und
folglich auch den Staat destabilisieren; dagegen hebt er hervor, der „Logos“
sei das „Beste“ (607a 7 f). N. wendet sich gegen diese Argumentation (die Pla-
ton dem Sokrates in den Mund legt), weil er ganz im Gegenteil für die dionysi-
sche Gefühlserregung durch die Tragödie und gegen den Logos Stellung
bezieht. Er wußte sich darin mit Wagner einig, der für möglichst intensive
Gefühlserregung plädierte, geradezu leitmotivisch in seiner Schrift Oper und
Drama. In seinem Beethoven-Aufsatz will er „jede Annahme einer Vernunft-
erkenntniß“ in Beethovens Schaffen „ausschließen“ (GSD IX, 87 f.).
92, 13 f. Wir wissen, welche einzige Gattung der Dichtkunst von ihm begriffen
wurde, die aesopische Fabel] Nach Platon, Phaidon 61b. Von Aisopos
(Äsop), 6. Jahrhundert v. Chr., stammt eine - nicht in einer ursprünglichen
Fassung erhaltene - Sammlung von Geschichten (pvOcov cnjvayGjyp), die dem
entsprachen, was später ,Fabel4 hieß. Daß es bereits im 5. Jahrhundert eine
solche Sammlung von Fabeln gab, die Sokrates kannte, zeigt die Platon-Stelle.
92, 15-17 mit jener lächelnden Anbequemung, mit welcher der ehrliche gute
Gellert in der Fabel von der Biene und der Henne das Lob der Poesie singt]
Christian Fürchtegott Gellert (1715-1769) war im 18. Jahrhundert durch seine
Fabeln berühmt. In den Versen, die N. anführt, entspricht Gellert der Dich-
tungsauffassung, die Gottsched, eine Leitfigur der Frühaufklärung, in seiner
Critischen Dichtkunst (1730, 4. Aufl. Leipzig 1751), propagiert hatte: Die Poesie
solle dem großen Anliegen der Aufklärung, der Ausbreitung der Vernunft die-
nen; dazu empfiehlt Gottsched das Verfahren, das Gellert in den von N. zitier-
ten Versen auf den Nenner bringt. Auch fordert Gottsched vom Dichter ein
„ehrliches und tugendliebendes Gemüth“, wovon noch das Kurzporträt zeugt,
das N. von Gellert zeichnet. Die Fabel Die Biene und die Henne in: Fabeln und
Erzählungen, Historisch-Kritische Ausgabe, bearbeitet von S. Scheibe, neu hg.
 
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