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Schmidt, Jochen; Nietzsche, Friedrich; Heidelberger Akademie der Wissenschaften [Mitarb.]
Historischer und kritischer Kommentar zu Friedrich Nietzsches Werken (Band 1,1): Kommentar zu Nietzsches "Die Geburt der Tragödie" — Berlin, Boston: De Gruyter, 2012

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https://doi.org/10.11588/diglit.70910#0344
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Stellenkommentar GT 16, KSA 1, S. 104 323

daß die Tragödie die Nachahmung einer Handlung sei, und er pointiert die
Relevanz der Handlung mit den Worten: „Nun geht es um Nachahmung von
Handlung und von Handelnden“ (Poetik 1449b 36-37). Damit wäre die primäre
Rolle, die N. der Musik zuschrieb, nicht vereinbar gewesen. Deshalb vermeidet
er in der Tragödienschrift den Begriff,Handlung4, obwohl dieser sich mit dem
griechischen Begriff ,Drama4 deckt und die Tragödie bekanntlich ein Drama
mit schlimmem Ausgang ist. An die Stelle des Handelns versucht er das „Lei-
den“ und die „Leidenschaft“, das „Pathos“ zu setzen. Markant antiaristotelisch
formuliert N.: „Zum Pathos, nicht zur Handlung bereitete Alles vor“ (KSA 1,
85, 33 f.). So konnte er auch die Weltanschauung Schopenhauers zur Geltung
bringen, der den „Willen“ ganz als Urgrund des Leidens in der Welt verstand.
Schließlich schlug N. die Brücke vom griechischen Begriff „Pathos“, der
sowohl „Leiden“ wie „Leidenschaft“ und „Affekt“ bedeutet, zum Pathetischen,
das die ,dionysische4 Musik Wagners bestimmt.
Eine weitere Hürde für die Behauptung einer fundamentalen Funktion der
Musik sieht N. im dritten Hauptelement, das Aristoteles in seiner Tragödien-
charakterisierung anführt: in der sprachlichen Darbietung. Denn die Handlung
mußte notwendigerweise sprachlich, insbesondere durch den Dialog der
Akteure vermittelt werden. In dem bereits zitierten Passus der Poetik berichtet
Aristoteles, erst Aischylos habe die Zahl der Schauspieler von einem auf zwei
erhöht, damit den Anteil des Chors verringert und „das Wort [den Dialog] zur
Vorherrschaft gebracht“. Obwohl N. den Dialog zunächst noch als Manifesta-
tion des „Apollinischen“ in der Tragödie ansieht (KSA 1, 64, 27 f.), interpretiert
er dann das Vordringen des Dialogs, den er noch dazu mit einer verwerflichen
„Dialektik“ assoziiert, als Niedergangsphänomen. Um aber überhaupt einen
Ansatz für sein Niedergangsschema zu finden, weicht er von der eindeutigen
Überlieferung ab, derzufolge es Aischylos war, der den entscheidenden Schritt
zur Verringerung des Chors tat, indem er den dramatischen Dialog erfand, der
von nun an das Geschehen dominierte. Denn nur wenn er Aischylos, den ers-
ten und ältesten der drei Tragiker, in die dionysisch-archaische Ursprungs-
sphäre der (Chor-)„Musik44 entrückte, konnte er kontrastiv einen geschichtlich
späteren Niedergang behaupten, wenn auch nicht begründen. Statt von
Aischylos schreibt er deshalb von Sophokles, er sei es gewesen, der den Anteil
des Chores zugunsten der Akteure und das heißt: des Dialogs verringert habe;
er resümiert: „der erste [!] Schritt zur Vernichtung des Chors“ (KSA 1, 95,
21 f.) sei von Sophokles getan worden. Daß sich diese Behauptung gegen Aris-
toteles richtet, geht daraus hervor, daß dieser in dem schon zitierten Passus
über Aischylos sagt, er habe „als erster“ (npcirroc;) den Anteil des Chors verrin-
gert und dem Logos - dem in den Dialogen der Akteure gesprochenen Wort -
zur Vorherrschaft verhülfen.
 
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