322 Die Geburt der Tragödie
muß alles, was nicht auf dem angeblichen „Instinkt“ beruht, als bloß noch
gelehrtes und theoretisierendes Nachprodukt erscheinen. Aristoteles, die
„Nachteule der Minerva“ nach dem leuchtenden Tag der Perikleischen Hoch-
kultur, figuriert hier bloß als Vertreter einer Spätzeit, ungeachtet der Tatsache,
daß er aus einer ihm noch nahen und vertrauten Tragödien-Überlieferung zu
schöpfen vermag; für N. repräsentiert er eine fragwürdige epigonale Sicht-
weise, die es zu revidieren gilt. Damit bringt sich N., der später eine revolutio-
näre „Umwertung aller Werte“ im Bereich der Moral zu seinem Programm
erhebt, bereits als Umwerter in der Sphäre der Kunst in Stellung. Diese Umwer-
tung führt er für sämtliche Komponenten der Aristotelischen Tragödienpoetik
durch: Wenn die Musik das Primäre und das Wesentliche ist, muß alles, was
Aristoteles als vorrangig bezeichnet: Mythos, Charaktere, sprachliche Darbie-
tung und Konzeption, unwesentlich und nachrangig sein.
Den an die erste Stelle gesetzten „Mythos“ verstand Aristoteles im griechi-
schen Sinne des Wortes als die Sage, die Fabel, die das Handlungsmuster der
Tragödie vorgibt. Prägnant formuliert er: „Grundlegend und gewissermaßen
die Seele der Tragödie ist also der Mythos“ (Poetik 1450a 38-39). Weil N. gerade
nicht die Handlung, sondern die Musik als das generative Prinzip der Tragödie
ansieht, bemüht er sich, aus dem Mythos etwas ganz anderes zu machen: eine
bildliche „Entladung“ und Transformation der Musik, womit deren Vorrang
gesichert bleibt und sie zugleich als das allein Wesentliche im Verhältnis zu
dem von ihr Abgeleiteten gewertet wird. Das gleiche Ziel verfolgt er mit den
von Aristoteles an zweiter Stelle genannten „Charakteren“, welche die Hand-
lung auf der Bühne darstellen. Auch sie dürfen keine eigenständige Bedeutung
im Verhältnis zur „Musik“ haben, sondern sollen im Gegenteil zu sekundären
Hypostasen der Musik werden. Um dies plausibel zu machen, geht N. von der
Tatsache aus, daß die Tragödie aus dem Dionysoskult entstand, und er behaup-
tet, Dionysos sei anfänglich der einzige „Held“ der Tragödienbühne gewesen;
sodann vermutet er, „dass alle die berühmten Figuren der griechischen Bühne
Prometheus, Oedipus u. s. w. nur Masken jenes ursprünglichen Helden Diony-
sus sind“ (KSA 1, 71, 22-24). Damit reduziert er alle „berühmten Figuren der
griechischen Bühne“ auf Dionysos und das Dionysische. Da N. das „Dionysi-
sche“ mit der „Musik“ gleichsetzt, dient ihm diese reduktionistische Monopoli-
sierung letztlich dazu, die Musik als das allein Wesentliche und als generatives
Prinzip auch im Hinblick auf die „Charaktere“, d. h. die handelnden Figuren
zu behaupten.
Eine besondere Schwierigkeit für das Unternehmen, den Tragödientraktat
des Aristoteles zu konterkarieren, bildet das dramatische Geschehen, das Aris-
toteles von den Grundelementen des „Mythos“ (Handlungsmuster) und der
„Charaktere“ (Handlungsträger) bestimmt sieht. Mehrmals insistiert er darauf,
muß alles, was nicht auf dem angeblichen „Instinkt“ beruht, als bloß noch
gelehrtes und theoretisierendes Nachprodukt erscheinen. Aristoteles, die
„Nachteule der Minerva“ nach dem leuchtenden Tag der Perikleischen Hoch-
kultur, figuriert hier bloß als Vertreter einer Spätzeit, ungeachtet der Tatsache,
daß er aus einer ihm noch nahen und vertrauten Tragödien-Überlieferung zu
schöpfen vermag; für N. repräsentiert er eine fragwürdige epigonale Sicht-
weise, die es zu revidieren gilt. Damit bringt sich N., der später eine revolutio-
näre „Umwertung aller Werte“ im Bereich der Moral zu seinem Programm
erhebt, bereits als Umwerter in der Sphäre der Kunst in Stellung. Diese Umwer-
tung führt er für sämtliche Komponenten der Aristotelischen Tragödienpoetik
durch: Wenn die Musik das Primäre und das Wesentliche ist, muß alles, was
Aristoteles als vorrangig bezeichnet: Mythos, Charaktere, sprachliche Darbie-
tung und Konzeption, unwesentlich und nachrangig sein.
Den an die erste Stelle gesetzten „Mythos“ verstand Aristoteles im griechi-
schen Sinne des Wortes als die Sage, die Fabel, die das Handlungsmuster der
Tragödie vorgibt. Prägnant formuliert er: „Grundlegend und gewissermaßen
die Seele der Tragödie ist also der Mythos“ (Poetik 1450a 38-39). Weil N. gerade
nicht die Handlung, sondern die Musik als das generative Prinzip der Tragödie
ansieht, bemüht er sich, aus dem Mythos etwas ganz anderes zu machen: eine
bildliche „Entladung“ und Transformation der Musik, womit deren Vorrang
gesichert bleibt und sie zugleich als das allein Wesentliche im Verhältnis zu
dem von ihr Abgeleiteten gewertet wird. Das gleiche Ziel verfolgt er mit den
von Aristoteles an zweiter Stelle genannten „Charakteren“, welche die Hand-
lung auf der Bühne darstellen. Auch sie dürfen keine eigenständige Bedeutung
im Verhältnis zur „Musik“ haben, sondern sollen im Gegenteil zu sekundären
Hypostasen der Musik werden. Um dies plausibel zu machen, geht N. von der
Tatsache aus, daß die Tragödie aus dem Dionysoskult entstand, und er behaup-
tet, Dionysos sei anfänglich der einzige „Held“ der Tragödienbühne gewesen;
sodann vermutet er, „dass alle die berühmten Figuren der griechischen Bühne
Prometheus, Oedipus u. s. w. nur Masken jenes ursprünglichen Helden Diony-
sus sind“ (KSA 1, 71, 22-24). Damit reduziert er alle „berühmten Figuren der
griechischen Bühne“ auf Dionysos und das Dionysische. Da N. das „Dionysi-
sche“ mit der „Musik“ gleichsetzt, dient ihm diese reduktionistische Monopoli-
sierung letztlich dazu, die Musik als das allein Wesentliche und als generatives
Prinzip auch im Hinblick auf die „Charaktere“, d. h. die handelnden Figuren
zu behaupten.
Eine besondere Schwierigkeit für das Unternehmen, den Tragödientraktat
des Aristoteles zu konterkarieren, bildet das dramatische Geschehen, das Aris-
toteles von den Grundelementen des „Mythos“ (Handlungsmuster) und der
„Charaktere“ (Handlungsträger) bestimmt sieht. Mehrmals insistiert er darauf,