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Schmidt, Jochen; Nietzsche, Friedrich; Heidelberger Akademie der Wissenschaften [Mitarb.]
Historischer und kritischer Kommentar zu Friedrich Nietzsches Werken (Band 1,1): Kommentar zu Nietzsches "Die Geburt der Tragödie" — Berlin, Boston: De Gruyter, 2012

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https://doi.org/10.11588/diglit.70910#0345
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324 Die Geburt der Tragödie

Eine genauere Interpretation zum historischen Stellenwert der Aristoteli-
schen Poetik gibt N. in dem Basler Vortrag Das griechische Musikdrama, der zu
den Vorstufen von GT gehört: „Es ist ja bekannt, daß ursprünglich die Tragödie
nichts als ein großer Chorgesang war: diese historische Erkenntniß giebt aber
in der That den Schlüssel zu jenem wunderlichen Problem. Die Haupt- und
Gesamtwirkung der antiken Tragödie beruhte in der besten Zeit immer noch
auf dem Chore: er war der Faktor, mit dem vor allem gerechnet werden mußte,
den man nicht bei Seite lassen durfte. Jene Stufe, in der sich das Drama unge-
fähr von Aeschylus bis Euripides hielt, ist die, in der der Chor soweit zurückge-
drängt war, um eben gerade noch die Gesamtfärbung anzugeben. Noch ein
einziger Schritt weiter und die Scene herrschte über die Orchestra, die Kolonie
über die Mutterstadt; die Dialektik der Bühnenpersonen und ihre Einzelge-
sänge traten vor und überwältigten den bisher gültigen chorisch-musikalischen
Gesamteindruck. Dieser Schritt ist gethan worden, und der Zeitgenosse dessel-
ben, Aristoteles, fixierte ihn in seiner berühmten, viel verwirrenden, das Wesen
des aeschyleischen Dramas gar nicht treffenden Definition“ (KSA 1, 524, 34-
525, 16). Wie problematisch die abschließende Aussage über „das Wesen des
aeschyleischen Dramas“ ist, geht schon daraus hervor, daß gerade Aischylos
den entscheidenden Schritt zur Zurückdrängung des Chores (in N.s Auffas-
sung: der „Musik“) tat, indem er einen zweiten Schauspieler einführte und
damit den Dialog ermöglichte, der fortan die Tragödien-Aufführungen domi-
nierte.
105, 4 Welt als Wille und Vorstellung I, p. 309] N. zitiert wieder nach der
Schopenhauer-Ausgabe von Julius Frauenstädt.
107, 30-33 die Befähigung der Musik, den Mythus d. h. das bedeutsamste
Exempel zu gebären und gerade den tragischen Mythus: den Mythus, der von
der dionysischen Erkenntniss in Gleichnissen redet.] Schon in den früheren Par-
tien von GT kommt dieser Gleichnis-Funktion und dem „Bild“ wesentliche
Bedeutung zu, so in GT 2, S. 31, 5-7 und GT 5, S. 44, 28-34, sowie unmittelbar
vor der hier zu erläuternden Stelle (107, 25-28). Mit dem auf Schopenhauers
Konstellation von „Wille“ und „Vorstellung“ zurückgehenden Verhältnis von
„Musik“ und „gleichnisartigem Bild“ (= „Mythus“) opponiert N. wieder gegen
die Poetik des Aristoteles, der zu den Grundelementen der Tragödie zwar auch
den Mythos zählt, aber in einem ganz anderen Sinne: als schon vorhandene
Geschichte (Fabel), die das Grundmuster der Handlung bereitstellt. N. bringt
den spekulativen Charakter seiner Theorie unmittelbar anschließend zum Aus-
druck (108,1-5). Zu der von Wagner übernommenen Metapher des „Gebärens“
vgl. den Kommentar zu 49, 6 f.
107, 33 f. An dem Phänomen des Lyrikers habe ich dargestellt] In den weit
zurückliegenden Kapiteln 5 und 6.
 
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