Stellenkommentar GT 17, KSA 1, S. 104-109 325
108,17-22 Die metaphysische Freude am Tragischen ist eine Uebersetzung der
instinctiv unbewussten dionysischen Weisheit in die Sprache des Bildes: der
Held, die höchste Willenserscheinung, wird zu unserer Lust verneint, weil er doch
nur Erscheinung ist, und das ewige Leben des Willens durch seine Vernichtung
nicht berührt wird.] Zur Grundierung dieser zentralen Aussage durch Tragödien-
theorien des Deutschen Idealismus vgl. NK 72, 34-73, 7. In einer Notiz heißt
es: „Die Vernichtung des Individuums als Einblick in die Vernichtung der
Individuation, höchste Lustspiegelung“ (NL 1870/1871/1872, KSA 7, 8[2],
219, 15 f.). Zur „Lust“ vgl. den ersten Abschnitt von GT 17.
108, 27-29 hier siegt die Schönheit über das dem Leben inhärirende Leiden,
der Schmerz wird in einem gewissen Sinne aus den Zügen der Natur hinweggelo-
gen.] Leiden ist bei Schopenhauer die Grundverfassung des Daseins; das Erleb-
nis des Schönen und der Trost, den die Kunst gewährt, täuscht über diese
Grundverfassung hinweg, aber nur für Augenblicke (Die Welt als Wille und
Vorstellung I, 3. Buch, § 52).
17. Kapitel
Zum engen Zusammenhang mit dem vorausgehenden 16. Kapitel vgl. dort den
Überblickskommentar, S. 315.
109, 2-4 Auch die dionysische Kunst will uns von der ewigen Lust des Daseins
überzeugen: nur sollen wir diese Lust nicht in den Erscheinungen, sondern hinter
den Erscheinungen suchen.] Diese „Lust“, ein Leitmotiv des ganzen ersten
Abschnitts, entspricht der „metaphysische[n] Freude am Tragischen“ (108,
17 f.), die der letzte Abschnitt des vorausgehenden 16. Kapitels thematisiert.
Das Metaphysische erhält in der Wendung „hinter den Erscheinungen“ seinen
genaueren, durch Schopenhauer vorkodierten Ausdruck. Die „Lust“ und
gerade die „ewige Lust“, welche aus der nächtlich-dunklen Tiefe des Dionysi-
schen jenseits der vergänglichen apollinischen Tages-Erscheinungen quillt, ist
das Thema des Nachtwandler-Lieds im vorletzten Zarathustra-Kapitel (Also
sprach Zarathustra IV, KSA 4, 404, 1-11):
„Oh Mensch! Gieb Acht!
Was spricht die tiefe Mitternacht?
„Ich schlief, ich schlief -,
„Aus tiefem Traum bin ich erwacht: -
„Die Welt ist tief,
„Und tiefer als der Tag gedacht.
„Tief ist ihr Weh -,
108,17-22 Die metaphysische Freude am Tragischen ist eine Uebersetzung der
instinctiv unbewussten dionysischen Weisheit in die Sprache des Bildes: der
Held, die höchste Willenserscheinung, wird zu unserer Lust verneint, weil er doch
nur Erscheinung ist, und das ewige Leben des Willens durch seine Vernichtung
nicht berührt wird.] Zur Grundierung dieser zentralen Aussage durch Tragödien-
theorien des Deutschen Idealismus vgl. NK 72, 34-73, 7. In einer Notiz heißt
es: „Die Vernichtung des Individuums als Einblick in die Vernichtung der
Individuation, höchste Lustspiegelung“ (NL 1870/1871/1872, KSA 7, 8[2],
219, 15 f.). Zur „Lust“ vgl. den ersten Abschnitt von GT 17.
108, 27-29 hier siegt die Schönheit über das dem Leben inhärirende Leiden,
der Schmerz wird in einem gewissen Sinne aus den Zügen der Natur hinweggelo-
gen.] Leiden ist bei Schopenhauer die Grundverfassung des Daseins; das Erleb-
nis des Schönen und der Trost, den die Kunst gewährt, täuscht über diese
Grundverfassung hinweg, aber nur für Augenblicke (Die Welt als Wille und
Vorstellung I, 3. Buch, § 52).
17. Kapitel
Zum engen Zusammenhang mit dem vorausgehenden 16. Kapitel vgl. dort den
Überblickskommentar, S. 315.
109, 2-4 Auch die dionysische Kunst will uns von der ewigen Lust des Daseins
überzeugen: nur sollen wir diese Lust nicht in den Erscheinungen, sondern hinter
den Erscheinungen suchen.] Diese „Lust“, ein Leitmotiv des ganzen ersten
Abschnitts, entspricht der „metaphysische[n] Freude am Tragischen“ (108,
17 f.), die der letzte Abschnitt des vorausgehenden 16. Kapitels thematisiert.
Das Metaphysische erhält in der Wendung „hinter den Erscheinungen“ seinen
genaueren, durch Schopenhauer vorkodierten Ausdruck. Die „Lust“ und
gerade die „ewige Lust“, welche aus der nächtlich-dunklen Tiefe des Dionysi-
schen jenseits der vergänglichen apollinischen Tages-Erscheinungen quillt, ist
das Thema des Nachtwandler-Lieds im vorletzten Zarathustra-Kapitel (Also
sprach Zarathustra IV, KSA 4, 404, 1-11):
„Oh Mensch! Gieb Acht!
Was spricht die tiefe Mitternacht?
„Ich schlief, ich schlief -,
„Aus tiefem Traum bin ich erwacht: -
„Die Welt ist tief,
„Und tiefer als der Tag gedacht.
„Tief ist ihr Weh -,