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Schmidt, Jochen; Nietzsche, Friedrich; Heidelberger Akademie der Wissenschaften [Mitarb.]
Historischer und kritischer Kommentar zu Friedrich Nietzsches Werken (Band 1,1): Kommentar zu Nietzsches "Die Geburt der Tragödie" — Berlin, Boston: De Gruyter, 2012

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https://doi.org/10.11588/diglit.70910#0407
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386 Die Geburt der Tragödie

Tendenz der bloßen Unterhaltung fortan nicht mehr; je eifriger die deutsche Centralbe-
hörde beflissen war den politischen Oppositionsblättern und -Blättchen durch ihre
Decrete den Garaus zu machen, um so schlauer verkappte sich der einmal vorhandene
unaustilgbare Oppositionsgeist in Tendenznovellen, Tendenzromanen, Tendenzgedichten,
ja Tendenzkritiken und Tendenztheaterrecensionen. Mit einer Tendenz legte sich der Jour-
nalist von damals zu Bett und mit einer Tendenz stand er wieder auf. Man setzte den
Bohrer der Tendenz nicht nur an die staatlichen und kirchlichen Einrichtungen, sondern
auch an die Ehe, an den historischen Christus, an den persönlichen Gott. Romanbeef-
steaks mit Tendenzsauce, Novellencotelettes mit Tendenzsauce, raisonnirende Fricassees
mit Tendenzsauce, kritische Hühnerpasteten mit Tendenzsauce, lyrische Würstchen mit
Tendenzsauce: es war wahrhaftig zu viel um von einem ehrlichen Menschenmagen vertra-
gen zu werden. Besonders gute Geschäfte wurden in der Tendenz der Frauenemancipation
gemacht, einem höchst nebelhaften Begriff, dessen Vertreter meist sehr bald in die Lage
kamen sich solche bedenkliche Tendenzen verbitten zu müssen. In dem Vordergründe
stand auch die Emancipation jener weltklugen, rastlos thätigen, auf allen, auch den geisti-
gen Gebieten leicht orientirten Kinder des Orients, die, indem ihnen die Tendenzen und
der Geist unserer Zeit zu Hülfe kamen, auf dem Gebiete der Tagesliteratur immer mehr
die Herren zu spielen anfingen. Es fehlte nicht viel zu einem Compromiß, wonach für
jeden zu einem christlichen Cultusminister oder Consistorialrath ernannten aufgeklärten
Juden ein vorurtheilsfreier Christ zum Oberrabbiner oder Vorsänger in der Synagoge zu
ernennen sei!
Indeß bin ich nicht gemeint [altertümlicher Ausdruck für „habe ich nicht die Absicht“] in
unserer so sehr zum Ernst auffodernden Zeit (die aber doch wieder zu spaßhaft ist, um
ihr gegenüber stets seinen Ernst bewahren zu können) die so ernste Sache, um die es
sich hier handelt noch weiter mit den Narrenglöckchen des Scherzes zu behängen. Der
Cultus der Tendenz [!] wie er damals in der Tagespresse eingerissen war hatte auch eine
sehr ernste und berechtigte Seite; komisch wurde er nur durch den Misbrauch den man
mit ihm trieb. Aber in jenem Tendenzcultus war doch wenigstens die Anerkennung ausge-
sprochen daß es für eine Nation noch etwas Höheres gäbe als den bloßen ästhetischen
Genuß, dem sich die literarische Genossenschaft bis dahin in die Arme geworfen hatte,
als das blos phantastische Traumleben, in welchem sich die Romantik abgeschwelgt
hatte, als der ausschließliche Unterhaltungszweck, der zuletzt selbst die veredelnde
ästhetische Tendenz auf der Bühne und in der Journalistik verdrängt hatte. Das Talent,
das bis dahin nur zu sehr bestrebt war sich selbst zu genügen und seine Willkürlichkeiten
und Ausschreitungen dem Publicum als Gesetz aufzulegen, unterwarf sich einer höhern
Bedingung und Maßbestimmung, der Tendenz. (Hermann Marggraff: Die deutsche Journa-
listik im Zusammenhänge mit der Entwickelung der deutschen Literatur und Gesammtbil-
dung. In: Blätter für literarische Unterhaltung. Jahrgang 1853, Erster Band. Leipzig: Brock-
haus. Nr. 20, 14. Mai 1853, S. 457-471, hier S. 459. Vorausging ein erster Artikel des
Verfassers zum gleichen Thema in Nr. 8, 1853).
N. erwähnt diese Zeitschrift mehrmals in späteren Briefen an seinen Verleger,
so in dem Brief an Naumann in Leipzig vom 2. August 1886 (KSB 7, Nr. 726,
S. 218, Z. 58) und in einem weiteren Brief an Naumann vom 25. November 1888
(KSB 8, Nr. 1156, S. 486, Z. 17), in dem er sie zu den „Hauptrevuen“ zählt.
Auch die Schriftsteller reflektierten in ihren Werken das neue Phänomen
der Presse und des Journalismus, etwa Balzac in seinem Roman Illusions per-
 
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