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Schmidt, Jochen; Nietzsche, Friedrich; Heidelberger Akademie der Wissenschaften [Mitarb.]
Historischer und kritischer Kommentar zu Friedrich Nietzsches Werken (Band 1,1): Kommentar zu Nietzsches "Die Geburt der Tragödie" — Berlin, Boston: De Gruyter, 2012

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https://doi.org/10.11588/diglit.70910#0425
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404 Die Geburt der Tragödie

Philebos erhalten die lustvollen Gefühle den Vorrang im Horizont des „Guten“.
Damit rückt Platon von seinen Frühwerken Protagoras (351 b ff.) und Gorgias
(491 e ff.) ab, in denen der Vorrang der Lust noch mit moralischem Pathos
bestritten wird. Die alte Stoa wies aufgrund ihres ethischen Rigorismus und
ihrer Affektfeindlichkeit die Lust als vernunftwidrig ab. Für Epikur (im Menoi-
keus-Brief, den Diogenes Laertius überliefert) ist Lust nur in einem schmerz-
freien und ausgeglichenen Seelenzustand zu finden: nicht in exzessivem
Genuß, sondern in der Bewährung einer vernünftig-tugendhaften Haltung.
N. setzt sich über alle derartigen Erörterungen hinweg, die sich am Glück
(Evöaipovia) des real gelebten Lebens orientieren, indem er auf eine dem „tra-
gischen Mythus“ zugeschriebene und in der Tragödie ästhetisch vermittelte
metaphysische Dimension der „Lust“ zielt. Dementsprechend beschwört er in
den folgenden beiden Abschnitten eine „Urlust“ (152, 33; 153, 14) und „Jenes
Streben in’s Unendliche“ sowie den „Flügelschlag der Sehnsucht“ (153, 8f.).
Die emotionale Grunderfahrung nennt N. das „Dionysische, mit seiner selbst
am Schmerz percipirten Urlust“ (152, 32 f.). Im Gegensatz zu denjenigen philo-
sophischen Konzepten, die sich am griechischen Ideal des Maßes orientieren
(auf das sich N. mit seinem Begriff des „Apollinischen“ bezieht, 40, 6-34 und
NK 40, 6), ist das „Dionysische“ von Dionysos her, dem Gott ekstatischer,
exzessiver Zustände, als das schlechthin Maßlose verstanden, allerdings in
romantisch-metaphysischer Neukodierung. Sie zeigt sich am deutlichsten in
der Rede vom „Streben nach dem Unendlichen“ und im Versuch, das „Dionysi-
sche“ auf den Wagnerschen „Geburtsschooss der Musik“ (152, 34) zurückzu-
führen. Der Begriff des ,Ästhetischen4 und der „Kunst“ (152, 9), die N. unter
die Kategorie der „Reinheit“ stellt, indem er sie der „rein aesthetischen
Sphäre“ (152,12 f.) zuordnet, behauptet den seit Kant und dem deutschen Idea-
lismus legitimierten Ausnahmestatus der Kunst.
152, 22-24 dass selbst das Hässliche und Disharmonische ein künstlerisches
Spiel ist, welches der Wille, in der ewigen Fülle seiner Lust, mit sich selbst spielt.]
Hier nimmt N. den im vorigen Abschnitt exponierten Begriff der Lust wieder
auf und transformiert den von Schopenhauer als Leidensquelle bestimmten
„Willen“ zur Lustfülle. Zugleich erinnert er, wie schon im vorigen Abschnitt,
an die Autonomie-Ästhetik Schillers. Dieser wollte in seiner (von N. auch sonst
herangezogenen) Abhandlung Über die ästhetische Erziehung des Menschen in
einer Reihe von Briefen das Spiel jenseits aller Bindungen an die Realität als
Manifestation vollkommener innerer Freiheit verstanden wissen: „Denn, um
es endlich auf einmal herauszusagen, der Mensch spielt nur, wo er in voller
Bedeutung des Worts Mensch ist, und er ist nur da ganz Mensch, wo er spielt“
(Friedrich Schiller: Werke und Briefe in zwölf Bänden, hg. von Otto Dann u.a.,
Bd. 8: Theoretische Schriften, hg. von Rolf-Peter Janz, Frankfurt 1992, S. 614,
 
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