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Stellenkommentar GT 23-25, KSA 1, S. 152 403

wie er den von Schiller immer wieder in dieser Schrift verwendeten Ausdruck
„ergötzen“ übernimmt), aber nicht als ausschließlich maßgebend bestimmt.
Schon Schiller hatte in einer späteren Partie seiner Schrift das Vergnügen an
tragischen Handlungen auch jenseits aller moralischen Empfindungen und
Wertungen für möglich erklärt: „Wir genießen dieses Vergnügen rein, so lange
wir uns keines sittlichen Zwecks erinnern, dem dadurch widersprochen wird“
(248, 1-3). Auch diese Vorstellung des ,Reinen4 übernimmt N. in der hier zu
erörternden Partie. Er distanziert sich von der Festlegung auf Moralisches,
indem er „für die Kunst [...] vor Allem Reinheit in ihrem Bereiche“ verlangt
und im Hinblick auf den „tragischen Mythus“ die „erste Forderung“ aufstellt,
„die ihm eigenthümliche Lust in der rein aesthetischen Sphäre zu suchen“
(152, 9-13).
Der letzte Satz des Abschnitts: „Wie kann das Hässliche und das Disharmo-
nische, der Inhalt des tragischen Mythus, eine aesthetische Lust erregen?“
bereitet die in den folgenden Abschnitten durch ein analogisierendes Verfah-
ren hergestellte - problematische - Verbindung des „tragischen Mythus“, d. h.
der tragischen Handlung, mit der Sphäre der Musik vor. Das „Disharmoni-
sche“, das im Folgenden der „musikalischen Dissonanz“ entspricht
(152, 27), soll in der Beziehung auf das tragische Geschehen, um das es eigent-
lich geht, als musikalische Metapher für das Unglück und das Leiden fungie-
ren, welche das Leben der Protagonisten zerstören. Auch das „Hässliche“, mit
dem N. vordergründig an die zeitgenössische Ästhetik des Hässlichen
anschließt (vgl. NK 15, 31-16, 5 f.), ist bei ihm eine fragwürdige ästhetisierende
Metapher für das tragische Geschehen - fragwürdig schon deshalb, weil das
Tragische des Geschehens nur unter der Voraussetzung als „hässlich“ zu
bezeichnen wäre, daß ein untragisch-glückliches Geschehen als ,schön4 gelten
würde. Die Erwähnung des „Mitleids“ spielt auf die bereits zitierten Definitio-
nen Lessings und Schillers sowie letztlich auf den Satz des Aristoteles über die
Wirkung der Tragödie an, der „sittliche Triumph“ wiederum auf Schiller.
„Lust“ (pöovp) ist eine Grundkategorie der griechischen Philosophie. Die
von N. abgewiesene Verbindung der ästhetischen Lust mit dem Moralischen
hatte in einem allgemeinen, grundsätzlichen (nicht auf den ästhetischen
Bereich eingeschränkten) Sinn Platon in seinem Spätwerk Philebos erörtert.
Nachdem Prodikos in seiner berühmten Fabel von Herakles am Scheidewege
(die später in die stoische Tradition überging) „Tugend“ (üpETp) und „Lust“
(pöovri) als einander ausschließende Lebensmöglichkeiten dargestellt hatte,
fragt Platon nach dem Verhältnis der Lust zum Guten und plädiert für das
„Maß“, das wesentlich in der rechten Mischung von Lust und vernünftiger
Einsicht bestehe. Es mischen sich aber auch entgegengesetzte Gefühle, sodaß
Lust und Unlust (Schmerz) sich durchdringen können. Im zweiten Teil des
 
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