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402 Die Geburt der Tragödie

nicht glauben, etwas für die Kunst damit gethan zu haben: die vor Allem Reinheit
in ihrem Bereiche verlangen muss. [...] Wie kann das Hässliche und das Dishar-
monische, der Inhalt des tragischen Mythus, eine aesthetische Lust erregen?] Die
Wendung „der mag nur nicht glauben“ würde in normaler sprachlicher Form
lauten: „der möge nur nicht glauben“. Die bereits in 109, 2-22 auf die „dionysi-
sche Kunst“ bezogene „aesthetische Lust“ steht in einer seit dem 18. Jahrhun-
dert ausgeprägten Tradition und war N. durch Lessings und Schillers ästheti-
sche Schriften als ein Thema vertraut, das insbesondere die durch die Tragödie
hervorgerufenen Empfindungen betrifft. Lessing spricht von Lust und Unlust,
die in der „vermischten Empfindung“ zusammenkommen, „welche wir Mitleid
nennen“ (Hamburgische Dramaturgie, 76. Stück). Schiller schreibt in seiner
Abhandlung Über den Grund des Vergnügens an tragischen Gegenständen im
Hinblick auf das „Trauerspiel“: „Das Rührende und Erhabene kommen darin
überein, daß sie Lust durch Unlust hervorbringen“ (im Anschluss an Kant,
Kritik der Urteilskraft, § 27, Schlußsatz: „der Gegenstand wird als erhaben mit
einer Lust aufgenommen, die nur vermittelst einer Unlust möglich ist.“) und
fügt hinzu: „Rührung, in seiner [sic] strengen Bedeutung, bezeichnet die
gemischte Empfindung des Leidens und der Lust an dem Leiden. Rührung
kann man also nur dann über eigenes Unglück empfinden, wenn der Schmerz
über dasselbe gemäßigt genug ist, um der Lust Raum zu lassen, die etwa ein
mitleidender Zuschauer dabei empfindet“ (Friedrich Schiller: Werke und Briefe
in zwölf Bänden, hg. von Otto Dann u.a., Bd. 8: Theoretische Schriften, hg. von
Rolf-Peter Janz, Frankfurt 1992, S. 239). N. opponiert gegen Schillers These von
der moralischen Wirkung der Tragödie, adaptiert aber das von Schiller (dessen
Darstellung inkonsistent ist) in Anlehnung an Kants Kritik der Urteilskraft for-
mulierte Autonomie-Postulat für den ästhetischen Bereich. In Schillers Schrift
Über den Grund des Vergnügens an tragischen Gegenständen heißt es über den
moralischen Zweck und die moralische Wirkung der Tragödie:
Keine Zweckmäßigkeit geht uns so nah an, als die moralische und nichts geht über die
Lust, die wir über diese moralische Zweckmäßigkeit empfinden. [...] Diese moralische
Zweckmäßigkeit wird am lebendigsten erkannt, wenn sie im Widerspruch mit andern die
Oberhand behält; nur dann erweist sich die ganze Macht des Sittengesetzes, wenn es mit
allen übrigen Naturkräften im Streit gezeigt wird und alle neben ihm ihre Gewalt über
ein menschliches Herz verlieren. Unter diesen Naturkräften ist alles begriffen, was nicht
moralisch ist, alles was nicht unter der höchsten Gesetzgebung der Vernunft stehet; also
Empfindungen, Triebe, Affekte, Leidenschaften so gut, als die physische Notwendigkeit
und das Schicksal. Je furchtbarer der Gegner, desto glorreicher der Sieg.
(Friedrich Schiller: Werke und Briefe in zwölf Bänden, hg. von Otto Dann u.a., Bd. 8:
Theoretische Schriften, hg. von Rolf-Peter Janz, Frankfurt 1992, 241, 3-24).
Auf den zuletzt zitierten Passus spielt N. an, indem er die „moralische Erget-
zung“ in Form „eines sittlichen Triumphes“ zwar partiell gelten lässt (ebenso
 
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