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Schmidt, Jochen; Nietzsche, Friedrich; Heidelberger Akademie der Wissenschaften [Mitarb.]
Historischer und kritischer Kommentar zu Friedrich Nietzsches Werken (Band 1,1): Kommentar zu Nietzsches "Die Geburt der Tragödie" — Berlin, Boston: De Gruyter, 2012

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https://doi.org/10.11588/diglit.70910#0432
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Stellenkommentar GT 23-25, KSA 1, S. 155-156 411

Absicht, die er mit der Einbeziehung des Heilgottes verfolgt, genauer erkennen.
Dort heißt es: „Vom Standpuncte der apollinischen Welt war das Hellenenthum
zu heilen und zu sühnen. Apollo der rechte Heil-und Sühngott rettete
den Griechen von der hellsehenden Ekstase und dem Ekel am Dasein - durch
das Kunstwerk des tragisch-komischen Gedankens“ (KSA 1, 596, 17-22).
156, 2 der delische Gott] Die Kykladen-Insel Delos war berühmt durch ihr
Apollon-Heiligtum und ihren Apollon-Kult. Der Mythologie zufolge gebar Leto
auf der Insel Delos sowohl Apollon wie Artemis. Nach seiner Geburtsinsel
Delos erhielt Apollon auch den Beinamen Delios.
156, 3-8 Einem so Gestimmten dürfte aber ein greiser Athener, mit dem erhabe-
nen Auge des Aeschylus zu ihm aufblickend, entgegnen: „Sage aber auch dies,
du wunderlicher Fremdling: wie viel musste dies Volk leiden, um so schön werden
zu können! Jetzt aberfolge mir zur Tragödie und opfere mit mir im Tempel beider
Gottheiten!“] Traditionell und so auch von Wagner und N. wird Aischylos das
,Erhabene4 zugesprochen, das zugleich eine Leitvorstellung der Tragödien-
schrift insgesamt ist. Vgl. den Überblickskommentar S. 60-62. Aischylos reprä-
sentiert schon früher in GT die noch ursprungsnahe archaische Form der Tra-
gödie (vgl. 68, 12-34; 70, 18-71, 9). Deshalb wird er hier mit einem „greisen“
Athener assoziiert, dem N. Schopenhauers Leidensphilosophie in den Mund
legt; zugleich verbindet er damit die als innere Notwendigkeit begriffene dia-
lektische Beziehung „beider Gottheiten“ zueinander. Die Aufforderung, „zur
Tragödie“ zu folgen, meint eine Aufführung im Festspielhaus von Bayreuth,
das sich in seiner Gründungsphase befand. Bereits wenige Monate, nachdem
die Tragödienschrift erschienen war, im April 1872, zogen Richard und Cosima
Wagner von Tribschen nach Bayreuth um. Die Aufforderung, im Tempel beider
Gottheiten - des Dionysos und des Apollon - zu opfern, erinnert zunächst an
Delphi, wo beide Götter ihren Kult hatten und in enger Verbindung zueinander
standen (vgl. NK 25, 4-6 und 32, 20-26), dann aber weist sie auf den Bayreu-
ther Kunst-,Tempel4 voraus, in dem die „Wiedergeburt der Tragödie“ gefeiert
werden sollte. Wagner selbst nannte in seiner Rede zur Grundsteinlegung das
im Bau befindliche Bayreuther Bühnenfestspielhaus einen „Tempel“ (Das Büh-
nenfestspielhaus zu Bayreuth. Nebst einem Berichte über die Grundsteinlegung
desselben, GSD IX, 329). In einer nachgelassenen Notiz N.s heißt es (NL 1871,
KSA 7, 13[2], 372, 29-31): „Deshalb steht das größte deutsche Kunstfest in Bay-
reuth einzig da: hier feiern die tragischen Menschen ihr Weihefest, zum Zei-
chen daß eine neue Kultur beginnt.“
 
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