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410 Die Geburt der Tragödie

155, 27-156, 3 im Wandeln unter hohen ionischen Säulengängen, aufwärts-
blickend zu einem Horizont, der durch reine und edle Linien abgeschnitten ist
[...] bei diesem fortwährenden Einströmen der Schönheit, zu Apollo die Hand
erhebend ausrufen müssen: „Seliges Volk der Hellenen! Wie gross muß unter
euch Dionysus sein, wenn der delische Gott solche Zauber für nöthig hält, um
euren dithyrambischen Wahnsinn zu heilen!“] Mit dieser im hymnisch-erhabe-
nen Stil gehaltenen Schlußpartie schließt N. an Winckelmanns berühmten
Hymnus auf den Apoll vom Belvedere in seiner Geschichte der Kunst des Alter-
thums an, fügt aber, indem er Winckelmanns alleinige Repräsentation griechi-
scher Vollkommenheit in der Gestalt Apollons nicht ergänzt, sondern dialek-
tisch auf eine dionysische Grundverfassung zurückführt, dessen Antipoden
Dionysos hinzu. Mit dieser Winckelmann-Kontrafaktur markiert N. abschlie-
ßend seine Überschreitung des klassizistischen Modells. In einer Notiz heißt
es: „Zum Schluß: anWinckelmann anzuknüpfen: Erklärung der Einfalt und
Würde des Hellenischen“ (NL 1870/1871, KSA 7, 7[66], 153, 21 f.). Zu dieser
dialektischen „Erklärung“ vgl. NL 1870/1871, KSA 7, 7[122], 176, 7-19 (zitiert in
NK 68, 14-18).
Die „hohen ionischen Säulengänge“ evoziert N. im Hinblick auf die ,apolli-
nische4 Schönheit, denn im Unterschied zu den strenger geformten dorischen
Säulen sind die jonischen schlanker und wirken dadurch eleganter. Auch die
Kapitelle beider Säulenformen sind unterschiedlich gestaltet - das jonische
Säulenkapitell hat als Zierat Voluten. Erstmals hatte der römische Architektur-
theoretiker Vitruv die drei Säulenordnungen einander gegenübergestellt: die
dorische, die jonische und die korinthische. Im Klassizismus bevorzugte man
die jonische Säulenordnung. Schinkel wählte sie für das 1830 eingeweihte Alte
Museum in Berlin. Mit dem „Horizont, der durch reine und edle Linien abge-
schnitten ist“, unterstreicht N. die ,apollinisch4 klare Begrenztheit der For-
men - Winckelmann hatte den „Kontur“ betont; außerdem weisen die „edlen“
Linien auf Winckelmanns bekannte Formel von der „edlen Einfalt und stillen
Größe“ der griechischen Bildwerke in seinem Traktat Über die Nachahmung
der griechischen Werke in der Malerei und Bildhauerkunst (1755) zurück. Zum
„delischen Gott“ vgl. NK 156, 2. Der Ausruf „Seliges Volk der Hellenen!“ in
dieser insgesamt hymnisch stilisierten Schlußpartie nimmt einen (auch in der
Bibel noch fortwirkenden) rituellen hymnischen Zug auf: den sog. „Makaris-
mös“, d. h. die „Glückseligpreisung“ (von pÜKOtp, glückselig). Daß Apollon in
N.s Darstellung eine heilende Funktion erhält („um euren dithyrambischen
Wahnsinn zu heilen“), geht auch darauf zurück, daß Apollon in der Antike ein
heilender Gott ist. Selbst in Rom wurde Apollon schon früh als Heilgott verehrt.
Im Jahre 431 v. Chr. errichteten die Römer dem „Apollo medicus“ einen Tempel.
Die Vorstufe Die Geburt des tragischen Gedankens läßt N.s konzeptionelle
 
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