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Neymeyr, Barbara; Nietzsche, Friedrich; Heidelberger Akademie der Wissenschaften [Mitarb.]
Historischer und kritischer Kommentar zu Friedrich Nietzsches Werken (Band 1/2): Kommentar zu Nietzsches Unzeitgemässen Betrachtungen: I. David Strauss der Bekenner und der Schriftsteller, II. Vom Nutzen und Nachtheil der Historie für das Leben — Berlin, Boston: De Gruyter, 2020

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https://doi.org/10.11588/diglit.69926#0059
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Überblickskommentar, Kapitel 1.4: Selbstaussagen Nietzsches 33

der Situation, das die spätere euphemistische Darstellung vollends ad absur-
dum führt, und zwar durch genau gegenteilige Aussagen: „Die grünen Hefte
der ,Grenzboten4 haben neulich ein Non plus ultra gebracht unter dem Titel
,Herr Friedrich Nietzsche und die deutsche Kultur.4 Alle Gewalten sind gegen
mich angerufen, Polizei Behörden Collegen, ausdrückliche Erklärung, dass ich
an jeder deutschen Universität in Verschiss gethan würde, Erwartung dass man
das Gleiche in Basel thut. Mittheilung, dass ich durch ein Kunststück Ritschl’s
und die Dummheit der Basler aus einem Studiosus zum ord. Prof, geworden
sei usw. Schmähungen auf Basel als ,Winkeluniversität4 [...] Selbst Fritzsch be-
kommt einen Tritt: es wird schmählich befunden, dass ein deutscher Verleger
mich genommen habe. Also, liebster Freund, unsre Nr. 1 hat, um mich ä la
Fritzsch auszudrücken, ,Eingang bei dem Publikum gefunden.444 (KSB4,
Nr. 324, S. 173-174.)
Im Vergleich mit anderen Werken N.s erscheint UB IDS als eine Schrift,
die durch die Konzentration auf den - heutzutage außerhalb der Theologie
weitgehend in Vergessenheit geratenen - David Friedrich Strauß in besonde-
rem Maße der Entstehungszeit verhaftet blieb. Allgemeinere Bedeutung kommt
dem Werk lediglich in den Passagen zu, die sich nicht allein auf Strauß als
Objekt einer polemischen Attacke konzentrieren, sondern darüber hinaus auch
eine in weitere Dimensionen ausgreifende Kulturkritik enthalten. Dies ist etwa
dort der Fall, wo N. seine später bekannt gewordenen Thesen zum „Bildungs-
philister44 (165-170) und zur Kultur als „Einheit des künstlerischen Stiles in
allen Lebensäusserungen eines Volkes“ formuliert (163, 3-4), die er dann in
UB IIISE (KSA 1, 352) und UB II HL (KSA 1, 274) wiederkehren lässt. Durch
kulturkritische Zeitdiagnosen und durch zukunftsorientierte Postulate weist
UB I DS in mehrfacher Hinsicht auf die späteren Unzeitgemässen Betrachtungen
voraus: Den bereits in UB I DS exponierten Gegensatz zwischen echter Bildung
und bloßer Gebildetheit (160-161) nimmt N. dort ebenso wieder auf wie seine
Kritik an Banalität und naiver Selbstüberschätzung der ,Bildungsphilister4
(165) und seine Vorbehalte gegenüber der maßgeblichen Beeinflussung der öf-
fentlichen Meinung durch den Berufsstand der Journalisten. Unter Rückgriff
auf die bereits von Schopenhauer formulierte Polemik gegen den Sprachstil
von Zeitungsschreibern wirft N. den Journalisten nicht nur die Verbreitung ei-
nes unreflektierten Kulturoptimismus vor, sondern legt ihnen auch die sprach-
lichen Depravationen im Medium Zeitung zur Last, die den Geschmack der
Leser seines Erachtens nachhaltig korrumpieren (159-162, 222-223). Vgl. dazu
NK159, 2 und NK 365, 6-7. In UB III SE kontrastiert N. den „Ernst der Philoso-
phie“ mit dem „Ungeist des Tages und der Tageblätter“ (KSA 1, 365, 2-7), den
er zugleich als charakteristisches Indiz für das von ihm bekämpfte „Zeitgemäs-
se“ beschreibt (KSA 1, 362, 31), mithin als Ursprung von Entartungsphänome-
nen der Epoche.
 
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