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Neymeyr, Barbara; Nietzsche, Friedrich; Heidelberger Akademie der Wissenschaften [Mitarb.]
Historischer und kritischer Kommentar zu Friedrich Nietzsches Werken (Band 1,2): Kommentar zu Nietzsches "Unzeitgemässen Betrachtungen": I. David Strauss der Bekenner und der Schriftsteller, II. Vom Nutzen und Nachtheil der Historie für das Leben — Berlin, Boston: de Gruyter, 2020

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https://doi.org/10.11588/diglit.69926#0090
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64 David Strauss der Bekenner und der Schriftsteller

larvt N. als Indiz für Ignoranz und für das Bedürfnis, sich die bedeutenden
Komponisten pragmatisch für den Kammer-Götzendienst zurechtzuschneiden
(187). Eine solche Indienstnahme betrachtet er auch deshalb als problematisch,
weil „die ästhetische öffentliche Meinung“ aufgrund der weit verbreiteten Ur-
teilsschwäche so anfällig für die Suggestionen „der dürftigsten Philisterei“ ist
(187) .
6.
Die erste seiner im 4. Kapitel exponierten Leitfragen, nämlich die Frage: „wie
denkt sich der Neugläubige seinen Himmel?“ (177), beantwortet N. am Anfang
des 6. Kapitels (188-193) polemisch: Er vergleicht den Kulturkonsum des Phi-
listers mit dem Verhalten von „Gewürm“, das „in den Werken unserer grossen
Dichter und Musiker“ haust und „bewundert, indem es frisst“ (188). Anschlie-
ßend fragt N. nach dem „Muth, den die neue Religion ihren Gläubigen verleiht“
(188) . Nur scheinbar legt er in dieser Hinsicht eine positive Antwort nahe,
wenn er behauptet, Strauß sei „muthig wie ein Mameluk“ und fürchte „weder
den Teufel noch Schopenhauer“ (189). Denn wenig später attestiert er seinem
Gegner, er formuliere Lobreden auf Kant „mit dem vollen Muthe der Ignoranz“
(190). Anstelle einer Haltung, die von echter Courage zeugt, erkennt N. bei
Strauß lediglich naive Egozentrik (188). Die „schönste Straussen-Idee vom Uni-
versum“ (189) und ein „schamloser Philister-Optimismus“ (191) haben ihn laut
N. sogar zu dem Versuch getrieben, mithilfe fragwürdiger „Sophismen“ den
Pessimismus zu widerlegen (192).
Nach N.s Auffassung hat sich Strauß durch die kritiklose Fixierung auf
Schleiermacher und vor allem auf den angeblichen „Riesengeist“ Hegel eine
Art unheilbarer Infektion zugezogen, die ihn für ein Verständnis Schopenhau-
ers dauerhaft verdorben hat (191). So erklärt sich N. die Invektiven, die Strauß
gegen die angeblichen „Absurditäten, Blasphemien, Ruchlosigkeiten“ der pes-
simistischen Philosophie Schopenhauers richtet (189). Indirekt argumentiert N.
für die Philosophie Schopenhauers, indem er den naiven Optimismus seines
Antipoden Strauß als eine zynische und „ruchlose Denkungsart“ kriti-
siert und dabei wörtlich auf eine Formulierung Schopenhauers zurückgreift
(192). Als charakteristisch für die „Ekel“ erregende „Vulgarität“ von Strauß’
Gesinnung betrachtet N. die trivialisierende Fehldeutung von Schopenhauers
Konzept der Verneinung und Askese (193).
 
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