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Neymeyr, Barbara; Nietzsche, Friedrich; Heidelberger Akademie der Wissenschaften [Mitarb.]
Historischer und kritischer Kommentar zu Friedrich Nietzsches Werken (Band 1,2): Kommentar zu Nietzsches "Unzeitgemässen Betrachtungen": I. David Strauss der Bekenner und der Schriftsteller, II. Vom Nutzen und Nachtheil der Historie für das Leben — Berlin, Boston: de Gruyter, 2020

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https://doi.org/10.11588/diglit.69926#0091
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Überblickskommentar, Kapitel 1.8: Struktur von UB I DS 65

7.
Im 7. Kapitel (193-200) fragt N. weiterhin nach dem „Muth“ seines Antipoden
Strauß und betont eine symptomatische Diskrepanz: Während sich Strauß ge-
radezu „tollkühn in Worten“ gebärde (193) und in ANG eine Attitüde besonde-
rer Couragiertheit zur Schau trage, zeige sich die „natürliche Feigheit“ (194)
des philiströsen Maulhelden schon an der praktischen Folgenlosigkeit seiner
Behauptungen (194). Charakteristisch für Strauß sei es, dass er nach seiner
Abkehr vom Christentum „Darwin als einen der grössten Wohlthäter der
Menschheit“ preise (194), ohne aus Hobbes’ „bellum omnium contra omnes
und dem Vorrechte des Stärkeren“ gemäß Darwins Theorie (194) auch konkrete
Postulate im Sinne einer „Darwinistischen Ethik“ abzuleiten (195). N. führt die-
se Inkonsequenz darauf zurück, dass Strauß nicht den Beifall der Philister-
Mehrheit riskieren will (195) und sich deshalb fortwährend an den zu erwarten-
den Publikumsgeschmack anzupassen versucht. Wenn Strauß in ANG alles
„sittliche Handeln“ als „ein Sichbestimmen des Einzelnen nach der Idee der
Gattung“ definiert (195), dann sieht N. daraus einen moralischen Imperativ re-
sultieren, der „unbrauchbar und kraftlos“ ist (195). Über diese Problematik hi-
naus kritisiert N. an Strauß auch die fehlende Bereitschaft zu argumentativer
Anstrengung. Hier sieht er Schopenhauers Diktum bestätigt, „dass Moral predi-
gen eben so leicht als Moral begründen schwer ist“ (195). Das „Imperativische“
der apodiktischen Aussagen in Strauß’ ANG beschreibt N. als einen Eskapis-
mus, mit dem sich der Autor der Verpflichtung zur „Erklärung“ entziehe
(195) .
Außerdem wirft N. Strauß manifeste Widersprüche vor: Anders, als er
selbst offenbar meine, sei die von ihm in ANG vertretene gleichmacherische
Moral mit der Theorie Darwins nicht kompatibel (196): So trage Strauß gerade
nicht dem „Gesetz der individuellen Verschiedenheit“ Rechnung, das die Basis
von Darwins Evolutionslehre bildet, weil diese vom Überleben der starken Ex-
emplare im Existenzkampf, mithin vom Prinzip der Individualität ausgeht
(196) . Darüber hinaus hält N. die quasi-religiöse Verehrung für das „Univer-
sum“ als „Urquell alles Lebens“ bei Strauß gerade vor dem Hintergrund seines
Darwinismus für nicht plausibel (196). Unter diesem Aspekt diagnostiziert er
in Strauß’ ANG einen untergründigen Einfluss des Hegelianismus. Dieser trage
zu den naturwissenschaftlich unredlichen Suppositionen bei, die in Strauß’
Schrift laut N. zu Anthropomorphismen führen (197).
Auch an Strauß’ Versuch, in ANG die „Rolle eines metaphysischen Archi-
tekten“ zu übernehmen (199) und seine Leser dabei über die Negativität des
,Universums4 hinwegzutäuschen, das sie durch „ein starres Räderwerk [...] zer-
malmen“ könne, diagnostiziert N. „die Grenze seines Muthes“ (199). In der sum-
 
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