294 Vom Nutzen und Nachtheil der Historie für das Leben
Die Schlusspassage des 10. Kapitels und damit der ganzen Historienschrift
verbindet N. thematisch mit dem Ende des Vorworts, in dem er sich als „Zög-
ling älterer Zeiten“, nämlich als Altphilologe, besonders dazu prädestiniert
fühlt, „unzeitgemäss“ zugunsten der Zukunft „zu wirken“ (247). Dabei beruft
er sich auf die antiken Griechen. Denn deren Situation betrachtet er als ver-
gleichbar mit der modernen Krisenkonstellation, weil sie bereits in der Gefahr
gewesen seien, „an der ,Historie4 zu Grunde zu gehen“: nämlich als „die über-
häuften Erben und Epigonen des ganzen Orients“ (333). Durch konstruktive
Selbstbesinnung und durch die organisatorische Bewältigung der Überfülle he-
terogener kultureller Prägungen sei es ihnen dann jedoch gelungen, das Erbe
zu mehren und sogar zum Vorbild für alle künftigen Kulturvölker zu avancie-
ren (333). Auf ähnliche Weise soll nach N.s Auffassung auch das moderne Indi-
viduum über eine bloße Nachahmung des Vorhandenen hinaus Eigenständig-
keit und Charakterstärke erringen. Nach seiner Überzeugung lässt sich die
Kultur nicht auf eine bloß dekorative Funktion reduzieren. Ihren Eigenwert
sieht er vielmehr gerade in der Kongruenz von „Leben, Denken, Scheinen und
Wollen“ (334).
11.5 Der rhetorische Duktus und die stilistische Gestaltung
der Historienschrift
Die Historienschrift lässt keinen einheitlichen Stil erkennen: Gelehrte Erörte-
rungen wechseln mit Abschweifungen und polemischen Passagen, die von ei-
ner pathosgeladenen Rhetorik bestimmt sind. Diese stilistische Heterogenität,
die in manchen Textpartien bis zu einem kaleidoskopischen Cento-Stil reicht,
erzeugt den Eindruck einer unterhaltsamen Vielfarbigkeit. Nachdem N.s Tragö-
dienschrift in der altphilologischen Fachwelt eine sehr kritische Resonanz ge-
funden hatte, intendierte er nun durch rhetorische Stilisierung besondere Pub-
likumswirksamkeit, zumal er mittlerweile seiner Gelehrtenexistenz überdrüssig
geworden war. Dass N. in UBII HL und UB III SE gegen die ,Gelehrten4 und die
Wissenschaft4 polemisiert, hängt auch mit der Kränkung durch die Ablehnung
seines Erstlingswerks zusammen.
Wenn er in der Historienschrift wiederholt mit Nachdruck auf dem Recht
der „Jugend“ insistiert, dann verfolgt er damit zugleich auch die Strategie, die
historisch argumentierende Kritik an der Geburt der Tragödie zurückzuweisen.
N.s akademischer Lehrer Ritschi hatte am 14. Februar 1872 mit einem langen,
enttäuschten Brief auf GT reagiert, in dem er die wissenschaftliche Relevanz
historischen Verstehens betonte (KGB II2, Nr. 285, S. 541-543). Erst in der spä-
teren kritischen Retrospektive, die N. 1886 im „Versuch einer Selbstkritik“ der
Die Schlusspassage des 10. Kapitels und damit der ganzen Historienschrift
verbindet N. thematisch mit dem Ende des Vorworts, in dem er sich als „Zög-
ling älterer Zeiten“, nämlich als Altphilologe, besonders dazu prädestiniert
fühlt, „unzeitgemäss“ zugunsten der Zukunft „zu wirken“ (247). Dabei beruft
er sich auf die antiken Griechen. Denn deren Situation betrachtet er als ver-
gleichbar mit der modernen Krisenkonstellation, weil sie bereits in der Gefahr
gewesen seien, „an der ,Historie4 zu Grunde zu gehen“: nämlich als „die über-
häuften Erben und Epigonen des ganzen Orients“ (333). Durch konstruktive
Selbstbesinnung und durch die organisatorische Bewältigung der Überfülle he-
terogener kultureller Prägungen sei es ihnen dann jedoch gelungen, das Erbe
zu mehren und sogar zum Vorbild für alle künftigen Kulturvölker zu avancie-
ren (333). Auf ähnliche Weise soll nach N.s Auffassung auch das moderne Indi-
viduum über eine bloße Nachahmung des Vorhandenen hinaus Eigenständig-
keit und Charakterstärke erringen. Nach seiner Überzeugung lässt sich die
Kultur nicht auf eine bloß dekorative Funktion reduzieren. Ihren Eigenwert
sieht er vielmehr gerade in der Kongruenz von „Leben, Denken, Scheinen und
Wollen“ (334).
11.5 Der rhetorische Duktus und die stilistische Gestaltung
der Historienschrift
Die Historienschrift lässt keinen einheitlichen Stil erkennen: Gelehrte Erörte-
rungen wechseln mit Abschweifungen und polemischen Passagen, die von ei-
ner pathosgeladenen Rhetorik bestimmt sind. Diese stilistische Heterogenität,
die in manchen Textpartien bis zu einem kaleidoskopischen Cento-Stil reicht,
erzeugt den Eindruck einer unterhaltsamen Vielfarbigkeit. Nachdem N.s Tragö-
dienschrift in der altphilologischen Fachwelt eine sehr kritische Resonanz ge-
funden hatte, intendierte er nun durch rhetorische Stilisierung besondere Pub-
likumswirksamkeit, zumal er mittlerweile seiner Gelehrtenexistenz überdrüssig
geworden war. Dass N. in UBII HL und UB III SE gegen die ,Gelehrten4 und die
Wissenschaft4 polemisiert, hängt auch mit der Kränkung durch die Ablehnung
seines Erstlingswerks zusammen.
Wenn er in der Historienschrift wiederholt mit Nachdruck auf dem Recht
der „Jugend“ insistiert, dann verfolgt er damit zugleich auch die Strategie, die
historisch argumentierende Kritik an der Geburt der Tragödie zurückzuweisen.
N.s akademischer Lehrer Ritschi hatte am 14. Februar 1872 mit einem langen,
enttäuschten Brief auf GT reagiert, in dem er die wissenschaftliche Relevanz
historischen Verstehens betonte (KGB II2, Nr. 285, S. 541-543). Erst in der spä-
teren kritischen Retrospektive, die N. 1886 im „Versuch einer Selbstkritik“ der