Stellenkommentar
i.
159, 2 Die öffentliche Meinung] In N.s Frühwerk hat die Auseinandersetzung
mit der „öffentliche[n] Meinung“ eine zentrale Bedeutung. Auch in seinen Brie-
fen ist diese Thematik relevant. Sachlich begründet erscheint der Stellenwert
seiner Kritik an der öffentlichen Meinung4 gerade im Zusammenhang mit,un-
zeitgemäßen4 Betrachtungen, weil die Abgrenzung von der communis opinio
als ein wesentlicher Bestandteil ihrer Programmatik fungiert. Im vorliegenden
Kontext geht es N. zunächst darum, sich angesichts aktueller Ereignisse vom
„Irrthum der öffentlichen Meinung“ abzugrenzen, der Sieg im deutsch-franzö-
sischen Krieg von 1870/71 habe auch „die deutsche Kultur in jenem Kampfe“
über die französische triumphieren lassen (159, 16-18). N. selbst hält diese An-
sicht für eine höchst schädliche Illusion und reagiert daher mit großer Skepsis
auf das im öffentlichen Diskurs dominierende Meinungsbild. Mit desillusio-
niertem Blick verurteilt er die durch den Kriegssieg ausgelöste nationalistische
Euphorie und wendet sich entschieden vor allem gegen den seines Erachtens
unrealistischen Kulturoptimismus der Deutschen. Ausgehend von der politi-
schen Situation und ihren Konsequenzen, erweitert N. anschließend den Fokus
der Auseinandersetzung durch kulturkritische Diagnosen. Wenn er mit seiner
Kritik an der „öffentlichen Meinung“ eine energische Polemik gegen die „Jetzt-
zeit-Schreiberei“ verbindet (223, 3), greift er bezeichnenderweise auf eine For-
mulierung Schopenhauers zurück (vgl. NK 223, 2-4).
Kontinuität bestimmt die Retrospektive, die N. in seinem Spätwerk Ecce
homo auf die Unzeitgemässen Betrachtungen entfaltet, auch im Hinblick auf
das Problemfeld der „öffentliche[n] Meinung“. Dort charakterisiert N. den In-
halt von UB I DS, indem er erklärt, der erste „Angriff“ dieser vier „kriege-
risch[en]44 Schriften habe „der deutschen Bildung“ gegolten, die er selbst für
verachtenswert halte; denn sie sei „Ohne Sinn, ohne Substanz, ohne Ziel: eine
blosse öffentliche Meinung4. Kein bösartigeres Missverständniss als zu glau-
ben, der grosse Waffen-Erfolg der Deutschen beweise irgend Etwas zu Gunsten
dieser Bildung - oder gar ihren Sieg über Frankreich ...“ (KSA 6, 316, 3-9). -
Indem N. diese Einschätzung bereits im 1. Kapitel von UB I DS als euphorische
Selbstüberschätzung, mithin als nationalistische Hybris zu entlarven versucht,
vollzieht er eine ,unzeitgemäße4 Inversion der „öffentlichen Meinung“ (159,16).
Dabei geht es ihm letztlich um die Zukunft der deutschen Kultur, wenn er die
von Schriftstellern, Gelehrten und Journalisten geförderten Illusionen diagnos-
tiziert und ihre „Gefahren“ (161, 31) und schädlichen Konsequenzen aufzeigt.
In einem nachgelassenen Notat von 1872/73 erklärt N.: „Wir sind der Kultur
https://doi.org/10.1515/9783110286861-002
i.
159, 2 Die öffentliche Meinung] In N.s Frühwerk hat die Auseinandersetzung
mit der „öffentliche[n] Meinung“ eine zentrale Bedeutung. Auch in seinen Brie-
fen ist diese Thematik relevant. Sachlich begründet erscheint der Stellenwert
seiner Kritik an der öffentlichen Meinung4 gerade im Zusammenhang mit,un-
zeitgemäßen4 Betrachtungen, weil die Abgrenzung von der communis opinio
als ein wesentlicher Bestandteil ihrer Programmatik fungiert. Im vorliegenden
Kontext geht es N. zunächst darum, sich angesichts aktueller Ereignisse vom
„Irrthum der öffentlichen Meinung“ abzugrenzen, der Sieg im deutsch-franzö-
sischen Krieg von 1870/71 habe auch „die deutsche Kultur in jenem Kampfe“
über die französische triumphieren lassen (159, 16-18). N. selbst hält diese An-
sicht für eine höchst schädliche Illusion und reagiert daher mit großer Skepsis
auf das im öffentlichen Diskurs dominierende Meinungsbild. Mit desillusio-
niertem Blick verurteilt er die durch den Kriegssieg ausgelöste nationalistische
Euphorie und wendet sich entschieden vor allem gegen den seines Erachtens
unrealistischen Kulturoptimismus der Deutschen. Ausgehend von der politi-
schen Situation und ihren Konsequenzen, erweitert N. anschließend den Fokus
der Auseinandersetzung durch kulturkritische Diagnosen. Wenn er mit seiner
Kritik an der „öffentlichen Meinung“ eine energische Polemik gegen die „Jetzt-
zeit-Schreiberei“ verbindet (223, 3), greift er bezeichnenderweise auf eine For-
mulierung Schopenhauers zurück (vgl. NK 223, 2-4).
Kontinuität bestimmt die Retrospektive, die N. in seinem Spätwerk Ecce
homo auf die Unzeitgemässen Betrachtungen entfaltet, auch im Hinblick auf
das Problemfeld der „öffentliche[n] Meinung“. Dort charakterisiert N. den In-
halt von UB I DS, indem er erklärt, der erste „Angriff“ dieser vier „kriege-
risch[en]44 Schriften habe „der deutschen Bildung“ gegolten, die er selbst für
verachtenswert halte; denn sie sei „Ohne Sinn, ohne Substanz, ohne Ziel: eine
blosse öffentliche Meinung4. Kein bösartigeres Missverständniss als zu glau-
ben, der grosse Waffen-Erfolg der Deutschen beweise irgend Etwas zu Gunsten
dieser Bildung - oder gar ihren Sieg über Frankreich ...“ (KSA 6, 316, 3-9). -
Indem N. diese Einschätzung bereits im 1. Kapitel von UB I DS als euphorische
Selbstüberschätzung, mithin als nationalistische Hybris zu entlarven versucht,
vollzieht er eine ,unzeitgemäße4 Inversion der „öffentlichen Meinung“ (159,16).
Dabei geht es ihm letztlich um die Zukunft der deutschen Kultur, wenn er die
von Schriftstellern, Gelehrten und Journalisten geförderten Illusionen diagnos-
tiziert und ihre „Gefahren“ (161, 31) und schädlichen Konsequenzen aufzeigt.
In einem nachgelassenen Notat von 1872/73 erklärt N.: „Wir sind der Kultur
https://doi.org/10.1515/9783110286861-002