Überblickskommentar, Kapitel 11.7: Historismus-Kontext 305
ten Genossen Ihrer Studien! All dies Vertrauen werden Sie nöthig haben um
mir auf meinen neuen und nicht ungefährlichen Wegen zu folgen und zuletzt -
wer weiss? wer weiss? - halten auch Sie es nicht mehr aus und sagen was
schon mancher gesagt hat: Mag er laufen wohin ihm beliebt und sich den Hals
brechen wenn’s ihm beliebt“ (KSB 6, Nr. 212, S. 181).
In einem nachgelassenen Notat, das einige Jahre später, nämlich zwischen
Herbst 1885 und Herbst 1886 entstand, äußert sich N. im Hinblick auf seine
kulturkritischen Frühwerke zunächst zwar selbstkritisch über den Titel Unzeit-
gemässe Betrachtungen, relativiert seine skeptische Perspektive dann aber
grundlegend, indem er selbstbewusst einen avantgardistischen Anspruch er-
hebt: „Wenn ich einstmals das Wort,unzeitgemäß4 auf meine Bücher geschrie-
ben habe, wie viel Jugend, Unerfahrenheit, Winkel drückt sich in diesem Worte
aus! Heute begreife ich, daß mit dieser Art Klage Begeisterung und Unzufrie-
denheit ich eben damit zu den Modernsten der Modernen gehörte“ (NL 1885-
1886, 2 [201], KSA 12, 165).
11.7 Nietzsches Historienschrift vor dem Horizont
des Historismus
Für den Begriff ,Historismus4 finden sich in UBII HL noch keine Belege, ob-
wohl N. das Phänomen des Historismus und seine Symptome in keinem ande-
ren Werk so eingehend reflektiert wie gerade hier. Erst im Zeitraum von 1875
bis 1887 verwendet er in drei nachgelassenen Notaten den Begriff,Historismus4
(vgl. NL 1875, 11 [4], KSA 8, 191 sowie NL 1880-1881, 10 [D88], KSA 9, 434 und
NL 1887, 9 [126], KSA 12, 410). Nur in einem einzigen Notat gebraucht N. den
Begriff ,Historicismus4 (NL 1885-1886, 2 [195], KSA 12, 163), der im 19. Jahrhun-
dert teilweise als Synonym zu dem heute gebräuchlicheren Begriff Historis-
mus4 galt, mitunter allerdings stärker pejorativ akzentuiert wurde. Zur Begriffs-
geschichte vgl. den Artikel Historismus, Historizismus von G. Scholtz (1974,
Sp. 1141-1147). - N.s Begriff der,Historie4 bleibt in UB II HL terminologisch rela-
tiv offen (vgl. dazu Kapitel II.9, Abschnitt 3) und konvergiert (auch deshalb)
mit dem, was im zeitgenössischen Diskurs bereits als Historismus4 etabliert
war, und zwar unter Rekurs auf „die wissenschaftlich-methodische Rationali-
tät“ der Geschichtswissenschaft und den Primat „der historisch-kritischen Me-
thode in der Klassischen Philologie und Theologie“ (Katrin Meyer: NH 2000a,
255).
In UB II HL 10 charakterisiert N. die „historische Krankheit“ als Krisen-
symptom der Epoche (vgl. 329, 331, 332). Zuvor zog er diese medizinische Meta-
pher am 2. September 1873 in seinem „Entwurf der ,Unzeitgemässen Betrach-
ten Genossen Ihrer Studien! All dies Vertrauen werden Sie nöthig haben um
mir auf meinen neuen und nicht ungefährlichen Wegen zu folgen und zuletzt -
wer weiss? wer weiss? - halten auch Sie es nicht mehr aus und sagen was
schon mancher gesagt hat: Mag er laufen wohin ihm beliebt und sich den Hals
brechen wenn’s ihm beliebt“ (KSB 6, Nr. 212, S. 181).
In einem nachgelassenen Notat, das einige Jahre später, nämlich zwischen
Herbst 1885 und Herbst 1886 entstand, äußert sich N. im Hinblick auf seine
kulturkritischen Frühwerke zunächst zwar selbstkritisch über den Titel Unzeit-
gemässe Betrachtungen, relativiert seine skeptische Perspektive dann aber
grundlegend, indem er selbstbewusst einen avantgardistischen Anspruch er-
hebt: „Wenn ich einstmals das Wort,unzeitgemäß4 auf meine Bücher geschrie-
ben habe, wie viel Jugend, Unerfahrenheit, Winkel drückt sich in diesem Worte
aus! Heute begreife ich, daß mit dieser Art Klage Begeisterung und Unzufrie-
denheit ich eben damit zu den Modernsten der Modernen gehörte“ (NL 1885-
1886, 2 [201], KSA 12, 165).
11.7 Nietzsches Historienschrift vor dem Horizont
des Historismus
Für den Begriff ,Historismus4 finden sich in UBII HL noch keine Belege, ob-
wohl N. das Phänomen des Historismus und seine Symptome in keinem ande-
ren Werk so eingehend reflektiert wie gerade hier. Erst im Zeitraum von 1875
bis 1887 verwendet er in drei nachgelassenen Notaten den Begriff,Historismus4
(vgl. NL 1875, 11 [4], KSA 8, 191 sowie NL 1880-1881, 10 [D88], KSA 9, 434 und
NL 1887, 9 [126], KSA 12, 410). Nur in einem einzigen Notat gebraucht N. den
Begriff ,Historicismus4 (NL 1885-1886, 2 [195], KSA 12, 163), der im 19. Jahrhun-
dert teilweise als Synonym zu dem heute gebräuchlicheren Begriff Historis-
mus4 galt, mitunter allerdings stärker pejorativ akzentuiert wurde. Zur Begriffs-
geschichte vgl. den Artikel Historismus, Historizismus von G. Scholtz (1974,
Sp. 1141-1147). - N.s Begriff der,Historie4 bleibt in UB II HL terminologisch rela-
tiv offen (vgl. dazu Kapitel II.9, Abschnitt 3) und konvergiert (auch deshalb)
mit dem, was im zeitgenössischen Diskurs bereits als Historismus4 etabliert
war, und zwar unter Rekurs auf „die wissenschaftlich-methodische Rationali-
tät“ der Geschichtswissenschaft und den Primat „der historisch-kritischen Me-
thode in der Klassischen Philologie und Theologie“ (Katrin Meyer: NH 2000a,
255).
In UB II HL 10 charakterisiert N. die „historische Krankheit“ als Krisen-
symptom der Epoche (vgl. 329, 331, 332). Zuvor zog er diese medizinische Meta-
pher am 2. September 1873 in seinem „Entwurf der ,Unzeitgemässen Betrach-