304 Vom Nutzen und Nachtheil der Historie für das Leben
Zweifel über Zweifel. Das Ziel ist zu weit, und hat man’s leidlich erreicht, so
hat man meistens auch seine Kräfte im langen Suchen und Kämpfen verzehrt:
man kommt zur Freiheit und ist matt wie eine Eintagsfliege am Abend. Das
fürchte ich so sehr. Es ist ein Unglück sich seines Kampfes so bewusst zu wer-
den, so zeitig! Ich kann ja nichts von Thaten entgegenstellen, wie es der Künst-
ler oder der Ascet vermag. Wie elend und ekelhaft ist mir oft das rohrdommel-
hafte Klagen! - Ich hab’s augenblicklich etwas sehr satt und über. [...] Dank
für die Druckfehler: aber der wichtigste fehlt, Höderlin für Hölderlin. Aber
nicht wahr, es sieht wunderschön aus? Aber es versteht kein Schwein. / Meine
Schriften sollen so dunkel und unverständlich sein! Ich dachte, wenn man von
der Noth redet, dass solche die in der Noth sind, einen verstehen werden. Das
ist auch gewiss wahr: aber wo sind die, welche ,in der Noth‘ sind?“ (KSB 4,
Nr. 356, S. 214-215).
Salaquarda geht davon aus, dass N. bereits kurz nach der Publikation mit
der Historienschrift „nicht gerade zufrieden war, wobei er allerdings weniger
an den Inhalt dachte, als an seine Leistung als Schriftsteller“; unter Rekurs auf
verschiedene Dokumente konstatiert er, dass N. „die Schrift zu seinen weniger
geglückten Arbeiten rechnete“ (Salaquarda 1984, 14-15); die nachträgliche Er-
innerung an den konzeptionellen „Drahtseilakt“ habe „es ihm schwer gemacht,
die weiterführenden Gedanken recht zu würdigen, die wir gerade in der Schrift
über Nutzen und Nachtheil der Historie für das Leben in reichem Maße finden“
(ebd, 30). So habe „die spätere Forschung der Zweiten Unzeitgemäßen mehr
Gerechtigkeit angedeihen“ lassen „als Nietzsche selbst“ (ebd., 4). Im Kontrast
zu seiner „auffällige[n] Reserve gegenüber dieser Schrift“ stehe deren enorme
Wirkungsgeschichte, in der außer der Geburt der Tragödie keines von N.s Früh-
werken soviel Beachtung gefunden habe wie die Historienschrift (vgl. ebd., 1).
In dem Rückblick auf das frühe und mittlere Werk, den N. am 20. März
1882 in einem (mit der Schreibmaschine geschriebenen) Brief an Elise Fincke
in Baltimore entfaltet, hat sich der Tenor der Selbsteinschätzung - verglichen
mit den oben zitierten skeptischen Äußerungen - allerdings bereits grundle-
gend verändert. Hier präsentiert sich N. der Adressatin nicht mit selbstquäleri-
schen Skrupeln, sondern mit ostentativem Selbstbewusstsein: „Ja verehrte
Frau es giebt noch Einiges von mir zu lesen - mehr noch: Sie haben noch Alles
von mir zu lesen. Jene unzeitgemässen Betrachtungen rechne ich als Jugend-
schriften: Da machte ich eine vorläufige Abrechnung mit dem was mich am
meisten bis dahin im Leben gehemmt und gefördert hatte, da versuchte ich
von Einigem loszukommen, dadurch dass ich es verunglimpfte oder verherr-
lichte wie es die Art der Jugend ist -: Ach die Dankbarkeit im Guten und Bösen
hat mir immer viel zu schaffen gemacht! Immerhin - ich habe einiges Vertrau-
en in Folge dieser Erstlinge eingeerntet, auch bei Ihnen und den ausgezeichne-
Zweifel über Zweifel. Das Ziel ist zu weit, und hat man’s leidlich erreicht, so
hat man meistens auch seine Kräfte im langen Suchen und Kämpfen verzehrt:
man kommt zur Freiheit und ist matt wie eine Eintagsfliege am Abend. Das
fürchte ich so sehr. Es ist ein Unglück sich seines Kampfes so bewusst zu wer-
den, so zeitig! Ich kann ja nichts von Thaten entgegenstellen, wie es der Künst-
ler oder der Ascet vermag. Wie elend und ekelhaft ist mir oft das rohrdommel-
hafte Klagen! - Ich hab’s augenblicklich etwas sehr satt und über. [...] Dank
für die Druckfehler: aber der wichtigste fehlt, Höderlin für Hölderlin. Aber
nicht wahr, es sieht wunderschön aus? Aber es versteht kein Schwein. / Meine
Schriften sollen so dunkel und unverständlich sein! Ich dachte, wenn man von
der Noth redet, dass solche die in der Noth sind, einen verstehen werden. Das
ist auch gewiss wahr: aber wo sind die, welche ,in der Noth‘ sind?“ (KSB 4,
Nr. 356, S. 214-215).
Salaquarda geht davon aus, dass N. bereits kurz nach der Publikation mit
der Historienschrift „nicht gerade zufrieden war, wobei er allerdings weniger
an den Inhalt dachte, als an seine Leistung als Schriftsteller“; unter Rekurs auf
verschiedene Dokumente konstatiert er, dass N. „die Schrift zu seinen weniger
geglückten Arbeiten rechnete“ (Salaquarda 1984, 14-15); die nachträgliche Er-
innerung an den konzeptionellen „Drahtseilakt“ habe „es ihm schwer gemacht,
die weiterführenden Gedanken recht zu würdigen, die wir gerade in der Schrift
über Nutzen und Nachtheil der Historie für das Leben in reichem Maße finden“
(ebd, 30). So habe „die spätere Forschung der Zweiten Unzeitgemäßen mehr
Gerechtigkeit angedeihen“ lassen „als Nietzsche selbst“ (ebd., 4). Im Kontrast
zu seiner „auffällige[n] Reserve gegenüber dieser Schrift“ stehe deren enorme
Wirkungsgeschichte, in der außer der Geburt der Tragödie keines von N.s Früh-
werken soviel Beachtung gefunden habe wie die Historienschrift (vgl. ebd., 1).
In dem Rückblick auf das frühe und mittlere Werk, den N. am 20. März
1882 in einem (mit der Schreibmaschine geschriebenen) Brief an Elise Fincke
in Baltimore entfaltet, hat sich der Tenor der Selbsteinschätzung - verglichen
mit den oben zitierten skeptischen Äußerungen - allerdings bereits grundle-
gend verändert. Hier präsentiert sich N. der Adressatin nicht mit selbstquäleri-
schen Skrupeln, sondern mit ostentativem Selbstbewusstsein: „Ja verehrte
Frau es giebt noch Einiges von mir zu lesen - mehr noch: Sie haben noch Alles
von mir zu lesen. Jene unzeitgemässen Betrachtungen rechne ich als Jugend-
schriften: Da machte ich eine vorläufige Abrechnung mit dem was mich am
meisten bis dahin im Leben gehemmt und gefördert hatte, da versuchte ich
von Einigem loszukommen, dadurch dass ich es verunglimpfte oder verherr-
lichte wie es die Art der Jugend ist -: Ach die Dankbarkeit im Guten und Bösen
hat mir immer viel zu schaffen gemacht! Immerhin - ich habe einiges Vertrau-
en in Folge dieser Erstlinge eingeerntet, auch bei Ihnen und den ausgezeichne-