272 Vom Nutzen und Nachtheil der Historie für das Leben
so würde Niemand wissen, dass es ein Uebel ist und dass ein Paradies der
Gesundheit verloren gegangen ist. Dieselbe Jugend erräth aber auch mit dem
heilkräftigen Instincte derselben Natur, wie dieses Paradies wieder zu gewin-
nen ist; sie kennt die Wundsäfte und Arzneien gegen die historische Krank-
heit“ (329, 21-34).
Zunächst schafft N. nur eine vage Antithese zum Historischen, indem er
„das Unhistorische und das Ueberhistorische“ als Therapeutika
beschreibt (330, 2-3). Wenig später lässt er dann aber eine Spezifikation folgen,
indem er „Kunst und Religion“ (330, 11) als Antidot betrachtet. In einem
nachgelassenen Notat aus der Entstehungszeit seiner Historienschrift diffe-
renziert er folgendermaßen: „Die unhistorischen Mächte heissen Vergessen
und Wahn. Die überhistorischen Kunst Religion Mitleid Natur Philosophie“
(NL 1873, 29 [194], KSA 7, 709). Von Kunst und Religion als „Arzneien“ jenseits
der Rationalität erhofft sich N., dass sie den Menschen gegen die „Wissen-
schaft“ (330,11), ja gegen die rationale Sphäre generell immunisieren. Dieses
gedankliche Grundmodell findet sich schon in der Geburt der Tragödie: Hier
inszeniert N. die Musik als Kunstform, welche die als Sokratismus etikettierte
Rationalität und „Wissenschaft“ überwinden und letztlich sogar eine kulturelle
„Wiedergeburt“ herbeiführen soll. Die von Kunst und Religion repräsentierte
Alternative zur Ratio lässt N. in der Historienschrift als „ein Seiendes, Ewiges“
erscheinen (330, 16). Inwiefern diese „aeternisirenden Mächte“ (330, 18) aber
gerade mit dem leitmotivisch exponierten Ideal von „Jugend“ Zusammenhän-
gen, zeigt auch die Ausrichtung auf das ,Unhistorische4 und ,Ueberhistorische4.
Unter anderen Aspekten tritt sie bereits im 1. Kapitel der Historienschrift zutage
(254, 14-15; 254, 26; 255, 28; 256, 27). Hier wählt N. eine ringkompositorische
Darstellungsstrategie.
11.4 Die Struktur des Gedankengangs in der Abfolge
der Kapitel
Wie UBI DS, UB III SE und UBIV WB sowie GT hat N. auch UBII HL (243-334)
in Kapitel eingeteilt: Der Text ist in ein Vorwort und zehn nummerierte Ab-
schnitte von jeweils unterschiedlichem Umfang gegliedert. Trotz dieser Markie-
rungen erscheinen manche Partien allerdings thematisch nur locker miteinan-
der verknüpft und wirken dadurch additiv oder exkursartig. Der schwer zu
fassende Duktus, den schon N.s Freund Erwin Rohde kritisierte (vgl. dazu Kapi-
tel II.5), macht im Kommentar sowohl eine Überblicksdarstellung als auch de-
taillierte Analysen erforderlich.
Nach der Problemexposition im Vorwort entfaltet N. im 1. Kapitel die Be-
deutung „des historischen Sinnes“ (251) als conditio humana. Den Kapiteln 2
so würde Niemand wissen, dass es ein Uebel ist und dass ein Paradies der
Gesundheit verloren gegangen ist. Dieselbe Jugend erräth aber auch mit dem
heilkräftigen Instincte derselben Natur, wie dieses Paradies wieder zu gewin-
nen ist; sie kennt die Wundsäfte und Arzneien gegen die historische Krank-
heit“ (329, 21-34).
Zunächst schafft N. nur eine vage Antithese zum Historischen, indem er
„das Unhistorische und das Ueberhistorische“ als Therapeutika
beschreibt (330, 2-3). Wenig später lässt er dann aber eine Spezifikation folgen,
indem er „Kunst und Religion“ (330, 11) als Antidot betrachtet. In einem
nachgelassenen Notat aus der Entstehungszeit seiner Historienschrift diffe-
renziert er folgendermaßen: „Die unhistorischen Mächte heissen Vergessen
und Wahn. Die überhistorischen Kunst Religion Mitleid Natur Philosophie“
(NL 1873, 29 [194], KSA 7, 709). Von Kunst und Religion als „Arzneien“ jenseits
der Rationalität erhofft sich N., dass sie den Menschen gegen die „Wissen-
schaft“ (330,11), ja gegen die rationale Sphäre generell immunisieren. Dieses
gedankliche Grundmodell findet sich schon in der Geburt der Tragödie: Hier
inszeniert N. die Musik als Kunstform, welche die als Sokratismus etikettierte
Rationalität und „Wissenschaft“ überwinden und letztlich sogar eine kulturelle
„Wiedergeburt“ herbeiführen soll. Die von Kunst und Religion repräsentierte
Alternative zur Ratio lässt N. in der Historienschrift als „ein Seiendes, Ewiges“
erscheinen (330, 16). Inwiefern diese „aeternisirenden Mächte“ (330, 18) aber
gerade mit dem leitmotivisch exponierten Ideal von „Jugend“ Zusammenhän-
gen, zeigt auch die Ausrichtung auf das ,Unhistorische4 und ,Ueberhistorische4.
Unter anderen Aspekten tritt sie bereits im 1. Kapitel der Historienschrift zutage
(254, 14-15; 254, 26; 255, 28; 256, 27). Hier wählt N. eine ringkompositorische
Darstellungsstrategie.
11.4 Die Struktur des Gedankengangs in der Abfolge
der Kapitel
Wie UBI DS, UB III SE und UBIV WB sowie GT hat N. auch UBII HL (243-334)
in Kapitel eingeteilt: Der Text ist in ein Vorwort und zehn nummerierte Ab-
schnitte von jeweils unterschiedlichem Umfang gegliedert. Trotz dieser Markie-
rungen erscheinen manche Partien allerdings thematisch nur locker miteinan-
der verknüpft und wirken dadurch additiv oder exkursartig. Der schwer zu
fassende Duktus, den schon N.s Freund Erwin Rohde kritisierte (vgl. dazu Kapi-
tel II.5), macht im Kommentar sowohl eine Überblicksdarstellung als auch de-
taillierte Analysen erforderlich.
Nach der Problemexposition im Vorwort entfaltet N. im 1. Kapitel die Be-
deutung „des historischen Sinnes“ (251) als conditio humana. Den Kapiteln 2