306 Vom Nutzen und Nachtheil der Historie für das Leben
tungen4“ sogar als Titel von UBII HL in Betracht (vgl. NL 1872-73, 19 [330],
KSA 7, 520). Zugleich spiegelt diese kulturkritische Metapher auch autobiogra-
phische Erfahrung wider. In diesem Sinne reflektiert N. 1886 in der „Vorrede“
zu Menschliches, Allzumenschliches II im Rückblick auf UB II HL über die eige-
ne Betroffenheit. Dabei spezifiziert er die generelle Feststellung „Man soll [...]
nur von dem reden, was man überwunden hat“ (KSA 2, 369, 3-4) mit Bezug
auf UB II HL: „was ich gegen die historische Krankheit4 gesagt habe, das sagte
ich als Einer, der von ihr langsam, mühsam genesen lernte und ganz und gar
nicht Willens war, fürderhin auf ,Historie4 zu verzichten, weil er einstmals an
ihr gelitten hatte“ (KSA 2, 370, 4-7). Analog: NL 1886-87, 6 [4], KSA 12, 232.
Diesem programmatischen Bekenntnis gemäß finden sich historische Betrach-
tungen schon in Menschliches, Allzumenschliches, später in Jenseits von Gut und
Böse und vor allem in Zur Genealogie der Moral, wo N. die historische Methode
in größerem Rahmen als Kritik praktiziert, und zwar als „Genealogie als Kritik“
anstelle einer „Genealogie als Geschichte“ (Stegmaier 1994, 65). Vgl. auch die
Beiträge in dem von Otfried Höffe hg. Kooperativen Kommentar (Höffe 2004).
Bereits in Menschliches, Allzumenschliches I spricht sich N. in Stück 274 für
die „historischen Studien“ aus (KSA 2, 226, 9-10), die er für die individuelle
Biographie und für die Kulturgeschichte eines Volkes gleichermaßen als we-
sentliche Horizontbildung betrachtet - in einer Antizipation seiner späteren
genealogischen Untersuchungen. In Jenseits von Gut und Böse beschreibt N.
den ,,historische[n] Sinn“, den „erst das neunzehnte Jahrhundert kennt“, als
dasjenige, worauf „wir Europäer als auf unsre Besonderheit Anspruch machen“
(KSA 5, 158, 1-6). Und er vermutet „unsre grosse Tugend des historischen
Sinns“ in einem Gegensatz „zum allerbesten Geschmacke“ (KSA 5,159, 30-33).
Die in UB II HL 10 präsente und auch in nachgelassenen Notaten von 1872 bis
1886 gelegentlich vorkommende medizinische Metapher „historische Krank-
heit“ (KSA 2, 370, 4) gestaltet N. in Stück 188 von Menschliches, Allzumenschli-
ches II dann sogar bis zu einem allegorischen Denkbild aus (vgl. KSA 2, 634-
635). Dabei erscheint ihm die „Historie im Ganzen, als das Wissen um die
verschiedenen Culturen“, als „die Heilmittellehre“ (KSA 2, 634, 15-17).
In der umfassenden Historismus-Diskussion war die Überzeugung von der
individuellen Eigenwertigkeit von Geschichtsepochen, Nationen und Kulturen
gemäß Johann Gottfried Herders Ideen zur Philosophie der Geschichte der
Menschheit (1784/1791) von grundlegender Bedeutung. Der interdisziplinär ge-
führte Historismus-Diskurs weist ein breites Spektrum unterschiedlicher Posi-
tionen auf, deren Ausläufer sich bis in die internationalen Postmoderne-Debat-
ten der 1980er und 1990er Jahre prolongieren. Innerhalb dieses Diskurses
kommt N.s UB II HL ein besonderer Stellenwert zu. (Vgl. dazu die Darlegungen
zur Wirkungsgeschichte der Historienschrift im folgenden Kapitel II.8.)
tungen4“ sogar als Titel von UBII HL in Betracht (vgl. NL 1872-73, 19 [330],
KSA 7, 520). Zugleich spiegelt diese kulturkritische Metapher auch autobiogra-
phische Erfahrung wider. In diesem Sinne reflektiert N. 1886 in der „Vorrede“
zu Menschliches, Allzumenschliches II im Rückblick auf UB II HL über die eige-
ne Betroffenheit. Dabei spezifiziert er die generelle Feststellung „Man soll [...]
nur von dem reden, was man überwunden hat“ (KSA 2, 369, 3-4) mit Bezug
auf UB II HL: „was ich gegen die historische Krankheit4 gesagt habe, das sagte
ich als Einer, der von ihr langsam, mühsam genesen lernte und ganz und gar
nicht Willens war, fürderhin auf ,Historie4 zu verzichten, weil er einstmals an
ihr gelitten hatte“ (KSA 2, 370, 4-7). Analog: NL 1886-87, 6 [4], KSA 12, 232.
Diesem programmatischen Bekenntnis gemäß finden sich historische Betrach-
tungen schon in Menschliches, Allzumenschliches, später in Jenseits von Gut und
Böse und vor allem in Zur Genealogie der Moral, wo N. die historische Methode
in größerem Rahmen als Kritik praktiziert, und zwar als „Genealogie als Kritik“
anstelle einer „Genealogie als Geschichte“ (Stegmaier 1994, 65). Vgl. auch die
Beiträge in dem von Otfried Höffe hg. Kooperativen Kommentar (Höffe 2004).
Bereits in Menschliches, Allzumenschliches I spricht sich N. in Stück 274 für
die „historischen Studien“ aus (KSA 2, 226, 9-10), die er für die individuelle
Biographie und für die Kulturgeschichte eines Volkes gleichermaßen als we-
sentliche Horizontbildung betrachtet - in einer Antizipation seiner späteren
genealogischen Untersuchungen. In Jenseits von Gut und Böse beschreibt N.
den ,,historische[n] Sinn“, den „erst das neunzehnte Jahrhundert kennt“, als
dasjenige, worauf „wir Europäer als auf unsre Besonderheit Anspruch machen“
(KSA 5, 158, 1-6). Und er vermutet „unsre grosse Tugend des historischen
Sinns“ in einem Gegensatz „zum allerbesten Geschmacke“ (KSA 5,159, 30-33).
Die in UB II HL 10 präsente und auch in nachgelassenen Notaten von 1872 bis
1886 gelegentlich vorkommende medizinische Metapher „historische Krank-
heit“ (KSA 2, 370, 4) gestaltet N. in Stück 188 von Menschliches, Allzumenschli-
ches II dann sogar bis zu einem allegorischen Denkbild aus (vgl. KSA 2, 634-
635). Dabei erscheint ihm die „Historie im Ganzen, als das Wissen um die
verschiedenen Culturen“, als „die Heilmittellehre“ (KSA 2, 634, 15-17).
In der umfassenden Historismus-Diskussion war die Überzeugung von der
individuellen Eigenwertigkeit von Geschichtsepochen, Nationen und Kulturen
gemäß Johann Gottfried Herders Ideen zur Philosophie der Geschichte der
Menschheit (1784/1791) von grundlegender Bedeutung. Der interdisziplinär ge-
führte Historismus-Diskurs weist ein breites Spektrum unterschiedlicher Posi-
tionen auf, deren Ausläufer sich bis in die internationalen Postmoderne-Debat-
ten der 1980er und 1990er Jahre prolongieren. Innerhalb dieses Diskurses
kommt N.s UB II HL ein besonderer Stellenwert zu. (Vgl. dazu die Darlegungen
zur Wirkungsgeschichte der Historienschrift im folgenden Kapitel II.8.)