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Neymeyr, Barbara; Nietzsche, Friedrich; Heidelberger Akademie der Wissenschaften [Mitarb.]
Historischer und kritischer Kommentar zu Friedrich Nietzsches Werken (Band 1,2): Kommentar zu Nietzsches "Unzeitgemässen Betrachtungen": I. David Strauss der Bekenner und der Schriftsteller, II. Vom Nutzen und Nachtheil der Historie für das Leben — Berlin, Boston: de Gruyter, 2020

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https://doi.org/10.11588/diglit.69926#0092
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66 David Strauss der Bekenner und der Schriftsteller

manschen Schlusspartie erklärt N. sehr direkt, warum er Strauß’ ANG „hasse“:
wegen der Synthese „von Dreistigkeit und Schwäche, tollkühnen Worten und
feigem Sich-Anbequemen“, wegen der falschen Prätention von „Weisheit“,
„Charakter und Kraft“, die den Weg „zu einer wahrhaft deutschen Kultur“ be-
hindern (200).
8.
Im 8. Kapitel (201-208) wendet sich N. der dritten Frage zu: „Wie schreibt er
seine Bücher?“ (201). Allerdings retardiert er seine Beurteilung des Schriftstel-
lers David Friedrich Strauß dann bis zum 9. Kapitel, weil er zuerst den „ausser-
ordentliche [n] Erfolg“ von ANG zu erklären versucht (201) und danach allgemei-
nere kulturkritische Reflexionen über die Depravationen der Wissenschaften in
seiner Epoche anstellt. N. betont die hektische Betriebsamkeit der Wissen-
schaftler, die „den wichtigsten Fragen“ ausweichen (203) und sich spezialis-
tisch auf Detailaspekte fixieren, ohne übergeordnete Gesichtspunkte mitzube-
rücksichtigen oder gar über die Relevanz der eigenen Forschung „für die
Kultur“ insgesamt nachzudenken (202-203). Er vergleicht diesen Typus von
„athemlosen, hin- und herrennenden“ Wissenschaftlern sogar mit einem neu-
en „Sclavenstand“ (202-203) - ähnlich wie in UBII HL, wo er von den gelehr-
ten „Sclaven“ in der „wissenschaftlichen Fabrik“ spricht (KSA 1, 300). Von den
Rahmenbedingungen kreativer Muße und „einer reinen Hingabe an den Geni-
us“ weit entfernt, begeben sie sich durch Hast, Gier und pragmatisches Kalkül
bei ihrer wissenschaftlichen „Fabrik“-Arbeit bereits auf den Weg „zur Barba-
rei“ (202-204).
Für diesen Habitus sind nach N.s Auffassung „so oberflächliche Bücher,
wie das Straussische“ charakteristisch (203), dem er vor allem Erfahrungsman-
gel, Ideenarmut und Affektiertheit sowie stupende Unreife und Uniformität des
Urteils vorwirft (204). Aber gerade die weitreichende Übereinstimmung zwi-
schen Strauß’ „Philister-Kultur“ (205) und dem von wirklicher Kultur weit ent-
fernten „Geiste der umlärmten Hochsitze deutscher Wissenschaft“ (204) er-
scheint zugleich als Erfolgsgarant für sein Buch ANG. Laut N. ist die „Philister-
Kultur“ durch eine naive Selbstüberschätzung gekennzeichnet, die bis zur Ver-
absolutierung der eigenen Institutionen, ja bis zu einem problematischen Un-
fehlbarkeitsanspruch für ihre Urteile „über alle Kultur- und Geschmacksfra-
gen“ reicht (205-206). Strauß verdanke seinen Status als Philister-„Häuptling“
einer „mediocritas des Muthes“, die sich nur geringfügig von der Feigheit der
Majorität unterscheide (208).
Die Vielzahl kritischer Rezensionen über Strauß’ ANG trotz des Sieges „bei
der öffentlichen Meinung“ (206) erklärt N., indem er zwischen der theologi-
 
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