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Neymeyr, Barbara; Nietzsche, Friedrich; Heidelberger Akademie der Wissenschaften [Mitarb.]
Historischer und kritischer Kommentar zu Friedrich Nietzsches Werken (Band 1/2): Kommentar zu Nietzsches Unzeitgemässen Betrachtungen: I. David Strauss der Bekenner und der Schriftsteller, II. Vom Nutzen und Nachtheil der Historie für das Leben — Berlin, Boston: De Gruyter, 2020

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https://doi.org/10.11588/diglit.69926#0101
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Stellenkommentar UB I DS 1, KSA 1, S. 159 75

kehrte N. zum Beginn des Wintersemesters nach Basel zurück. Am 29. Oktober
1870 klagte er in einem Brief an seinen akademischen Lehrer Friedrich Ritschi
über deutschlandfeindliche Affekte: „Auch mit ruhigen und im Ganzen
deutschgesinnten Baselern kann man sich nicht mehr verständigen. Der Deut-
schenhaß ist hier instinktiv und die Lust an den französischen Siegesberichten
groß. Heute allgemeine Trauer wegen Metz“ (KSB 3, Nr. 105, S. 152). Im Hin-
blick auf die deutsche Kultur problematisiert N. die Hegemonie Preußens in
Deutschland. So übt er auch an Strauß’ Affinität zu Hegel und seiner „platt
optimistischen Weltbetrachtung mit dem preußischen Staate als Zielpunkt der
Weltgeschichte“ Kritik (NL 1873, TI [30], KSA 7, 595-596). - Das gesteigerte na-
tionale Selbstbewusstsein, das mit dem Sieg über Frankreich und mit der
Reichsgründung verbunden war, bildet bereits in der Anfangspassage von
UB I DS den Einstieg in kulturgeschichtliche Reflexionen, die für die Unzeitge-
mässen Betrachtungen insgesamt charakteristisch sind.
159, 5-6 diejenigen Schriftsteller [...], welche keine wichtigere Meinung als jene
öffentliche kennen] Anspielung auf den ,Hurra-Patriotismus4 von Autoren, die
nach dem Sieg über Frankreich im Krieg von 1870/71 in Deutschland einen
ausgeprägten Nationalismus kultivierten. N. kritisiert diese Tendenzen. Denn
er hält die Ansicht für problematisch, mit dem militärischen Sieg Deutschlands
über Frankreich gehe auch eine kulturelle Überlegenheit einher. Im Kontext
des vorliegenden Kapitels von UB I DS entfaltet er seine Kulturkritik, indem er
den deutschen Nationalisten eine unrealistische Hybris attestiert.
159, 9-13 Trotzdem sei es gesagt: ein grosser Sieg ist eine grosse Gefahr. Die
menschliche Natur erträgt ihn schwerer als eine Niederlage; ja es scheint selbst
leichter zu sein, einen solchen Sieg zu erringen, als ihn so zu ertragen, dass da-
raus keine schwerere Niederlage entsteht.] In einem auf Frühjahr 1873 datierten
Quartheft [26 = U 15b] widmet N. mehrere nachgelassene Notate bereits The-
menkomplexen, die er später auch in die Druckversion von UB I DS integriert:
Schon in diesen Vorarbeiten reflektiert N. fatale Folgen des Irrtums, mit dem
militärischen Sieg Deutschlands im deutsch-französischen Krieg von 1870/71
sei auch ein Triumph der deutschen Kultur über die französische verbunden
(NL 1873, 26 [16], KSA 7, 581-584), die er in UB I DS dann ausführlicher im 1. Ka-
pitel präsentiert (159-164). Mit Nachdruck erklärt N. schon in diesem nachge-
lassenen Notat, dass er selbst einen „Kampf“ gegen diese „Illusion des Kultur-
sieges“ für notwendig hält (NL 1873, 26 [19], KSA 7, 584). Auch in einem
weiteren Quartheft [27 = U II1], das Notate vom Frühjahr bis zum Herbst 1873
umfasst, problematisiert N. Konsequenzen des deutschen Sieges: „Hat die
,deutsche Kultur4 gesiegt? Nein. Aber sie glaubt es“ (NL 1873, TI [60], KSA 7,
605). Und zuvor notiert N.: „Es ist fast verboten, von den schlimmen Wirkun-
 
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