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Neymeyr, Barbara; Nietzsche, Friedrich; Heidelberger Akademie der Wissenschaften [Mitarb.]
Historischer und kritischer Kommentar zu Friedrich Nietzsches Werken (Band 1,2): Kommentar zu Nietzsches "Unzeitgemässen Betrachtungen": I. David Strauss der Bekenner und der Schriftsteller, II. Vom Nutzen und Nachtheil der Historie für das Leben — Berlin, Boston: de Gruyter, 2020

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https://doi.org/10.11588/diglit.69926#0104
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78 David Strauss der Bekenner und der Schriftsteller

eines vorangegangenen, bereits abgeschlossenen Vorgangs zu bezeichnen. Im
Kontrast dazu versteht N.,Bildung4 im Kontext von UB I DS tendenziell als pro-
zessual und schreibt ihr insofern eine lebendige Dynamik zu, die kreative
Offenheit für Weiterentwicklungen in der Zukunft mit einschließt. Nach N.s
Auffassung missverstehen die gebildeten4 ihr Bildungsgut als eine Art von
sedimentiertem Besitz, der fixiert, statisch verfügbar und fungibel ist. Eine sol-
che Mentalität fördert den Habitus selbstzufriedener Philistrosität, den N. in
UB I DS insbesondere an David Friedrich Strauß und seinen Anhängern kriti-
siert. Zugleich bildet sie auch eine Basis für die vielfältigen Instrumentalisie-
rungen, die N. in UB III SE als selbstsüchtige Erwerbsstrategien unter „Beihülfe
der Kultur44 beschreibt (KSA 1, 387, 20-21) und im Rahmen seiner Gelehrtensati-
re humoristisch charakterisiert (vgl. KSA 1, 394, 20 - 400, 8).
In UB I DS erklärt N., für die „Philister-Kultur“ des Schriftstellers Strauß
und seiner Gesinnungsgenossen sei ein „Ausdruck der Zufriedenheit“ mit dem
Status quo charakteristisch, so dass sie „nichts Wesentliches an dem gegen-
wärtigen Stande der deutschen Gebildetheit geändert haben“ wollen (205, 11-
17). Mit einem solchen Habitus sieht N. eine realitätsfremde Hybris der Bil-
dungsphilister verbunden, die von der „Singularität der deutschen Bildungs-
institutionen, namentlich der Gymnasien und Universitäten, überzeugt“ sind
(205,18-20) und sich der Illusion hingegeben, durch diese zum ,,gebildetste[n]
und urtheilsfähigste[n] Volk der Welt“ geworden zu sein (205, 22). Zum Begriff
,Bildungsphilister4, den N. außer in UB I DS (165, 7, 10) auch in UB III SE
(KSA 1, 352, 27) verwendet, sowie zu den Implikationen von ,Philister4 und ,Bil-
dungsphilister4 in der Kulturgeschichte vgl. die Belege in NK165, 6. Im Kon-
trast zu bloßer ,Gebildetheit4, die laut N. den Philister kennzeichnet, insbeson-
dere den Bildungsphilister, schließt genuine ,Bildung4 geistige Flexibilität und
damit auch ein intellektuelles Zukunftspotential ein.
In einer Strukturanalogie zum Gegensatz zwischen statischer,Gebildetheit4
und dynamischer ,Bildung4 bei N. zieht Lessing in seiner Schrift Eine Duplik,
auf die sich N. in UB I DS beruft, dem Besitz der Wahrheit den „immer regen
Trieb darnach“ vor (197, 34). Angesichts der bereits von Lessing betonten intel-
lektuellen Dynamik einer geistigen Suchbewegung, die N.s eigener Vorstellung
von ,Bildung4 entspricht, erscheint es konsequent, dass N. dieses berühmte
Diktum Lessings in UB I DS mit programmatischem Nachdruck zitiert und es
zu „den herrlichsten“ Worten zählt, die Lessing „uns hinterlassen hat“ (vgl.
197, 32 - 198, 4). Vgl. dazu ausführlicher NK 197, 32 - 198, 14. Auf dieselbe
Aussage Lessings bezieht sich N. zuvor auch bereits in der Geburt der Tragödie
(KSA 1, 99, 1-5). Zum Typus des geistig buchenden4 (unter Einbeziehung von
Lessings Mentalität) vgl. NK 167,15. - Gerade aus der Alternative von engagierter
Wahrheitssuche und vermeintlichem Wahrheitsbesitz erklärt sich die spöttische
 
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