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Neymeyr, Barbara; Nietzsche, Friedrich; Heidelberger Akademie der Wissenschaften [Mitarb.]
Historischer und kritischer Kommentar zu Friedrich Nietzsches Werken (Band 1/2): Kommentar zu Nietzsches Unzeitgemässen Betrachtungen: I. David Strauss der Bekenner und der Schriftsteller, II. Vom Nutzen und Nachtheil der Historie für das Leben — Berlin, Boston: De Gruyter, 2020

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https://doi.org/10.11588/diglit.69926#0111
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Stellenkommentar UB I DS 1, KSA 1, S. 161-163 85

wurde. Ob die Makedonen, die ursprünglich kulturell eigenständig waren, zu
den griechischen Völkern gehörten, ist in der Forschung umstritten. Nach den
Eroberungsfeldzügen von Philipp II. gerieten die Makedonen in einen Assimi-
lationsprozess, der zu ihrer immer stärkeren Hellenisierung führte. Alexander
der Große (356-323 v. Chr.) baute bei seinen ausgedehnten Feldzügen ein Reich
von gigantischen Ausmaßen auf, das sich nach den erfolgreichen Perserkrie-
gen schließlich sogar bis nach Indien erstreckte. Die Gründung zahlreicher
Städte in den eroberten Gebieten trug maßgeblich zur Verbreitung der griechi-
schen Sprache und Kultur bei. Dabei ließ die von Alexander dem Großen voll-
zogene Integration orientalischer Elemente eine hellenistische ,Weltkultur4 ent-
stehen. - Dass für N. auch diese historischen Ereignisse in der Antike zum
kulturhistorischen Hintergrund der Unzeitgemässen Betrachtungen gehören,
zeigen seine Anspielungen auf den Versuch Alexanders des Großen, zwischen
der griechischen und der orientalischen Kultur zu vermitteln. Vgl. dazu N.s
rhetorische Frage in UB IV WB: „Was mag Alexander der Grosse in jenem Au-
genblicke gesehen haben, als er Asien und Europa aus Einem Mischkrug trin-
ken liess?“ (KSA 1, 434, 28-30). Vgl. auch den Kommentar dazu.
163, 3-4 Kultur ist vor allem Einheit des künstlerischen Stiles in allen Lebens-
äusserungen eines Volkes.] Der im Laufe der Geschichte hergestellten politi-
schen Einheit Deutschlands hält N. ein Kulturkonzept entgegen, das er durch
die Reichsgründung in Frage gestellt sieht. Im vorliegenden Kontext signali-
siert N., dass er mit Bildung und Kultur die Vorstellung einer inneren ,Form‘
verbindet. Auf deren Homogenität basiert seines Erachtens die kulturelle Über-
legenheit gegenüber heterogenen Stilsynthesen, die er als „moderne Jahr-
markts-Buntheit“ kritisiert (163, 22-23). Indem N. sein Kulturkonzept durch den
Begriff „Lebensäusserungen“ geradezu definitorisch mit den Manifestationen
von , Leben4 verbindet, antizipiert er bereits Grundpositionen der folgenden
Schrift UB II HL, in der er sich mit dem Historismus seiner Epoche kritisch aus-
einandersetzt. Während frühere Epochen noch durch das Qualitätssignum der
Stileinheit bestimmt sind, geht der Historismus des 19. Jahrhunderts eklektisch
mit dem kulturellen Fundus unterschiedlicher Stilformen um. N. weist darauf
bereits in der Geburt der Tragödie hin und lässt diesen Problemkomplex in
UB II HL dann zum Hauptthema avancieren. Auch später formuliert N. immer
wieder Einschätzungen dieser Art und schließt damit an bereits gängige Zeit-
diagnosen an.
Auf seine Definition der Kultur als „Einheit des künstlerischen Stiles in
allen Lebensäusserungen eines Volkes“ (163, 3-4) greift N. auch in UB II HL
zurück, wenn er mit einem impliziten Selbstzitat erklärt: „Die Cultur eines Vol-
kes als der Gegensatz jener Barbarei ist einmal, wie ich meine, mit einigem
Rechte, als Einheit des künstlerischen Stiles in allen Lebensäusserungen eines
 
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