86 David Strauss der Bekenner und der Schriftsteller
Volkes bezeichnet worden“ (KSA 1, 274, 26-29). - Eine Vorstufe zu N.s Kultur-
begriff findet sich im Nachlass: „Die Kultur eines Volkes offenbart sich in der
einheitlichen Bändigung der Triebe dieses Volkes: die Philosophie
bändigt den Erkenntnißtrieb, die Kunst den Formentrieb [...]“ (NL 1872-1873,
19 [41], KSA 7, 432). Zuvor spezifiziert N. diese Vorstellung im Hinblick auf die
griechische Antike: „In allen griechischen Trieben zeigt sich eine bändigen-
de Einheit: nennen wir sie den hellenischen Willen“ (NL 1872-1873,19 [41],
KSA 7, 432).
Dass N. die griechische Kultur auch vor dem Hintergrund der Epigonen-
problematik des 19. Jahrhunderts als lehrreich, ja geradezu vorbildlich betrach-
tet, erhellt programmatisch aus der markanten Schlusspassage von UBII HL
(KSA 1, 333, 6 - 334,14). Hier analogisiert N. die Situation der antiken Griechen
mit dem problematischen Status quo seiner eigenen Zeitgenossen: „Es gab
Jahrhunderte, in denen die Griechen in einer ähnlichen Gefahr sich befanden,
in der wir uns befinden, nämlich an der Ueberschwemmung durch das Fremde
und Vergangne, an der,Historie4 zu Grunde zu gehen“ (333, 6-9). Mit der Über-
fülle heterogener Impulse aus anderen Kulturen konfrontiert, lernten die Grie-
chen aber „allmählich das Chaos zu organisiren“, indem sie sich „auf
sich selbst“ besannen, „nicht lange die überhäuften Erben und Epigonen des
ganzen Orients“ blieben und dann sogar die „Vorbilder aller kommenden Cul-
turvölker“ wurden (333, 17-26).
163, 9-25 In diesem chaotischen Durcheinander aller Stile lebt aber der Deut-
sche unserer Tage [...]. Alles sollte ihn doch belehren: [...] inmitten des geselligen
Verkehrs sollte er sich des Ursprunges seiner Manieren und Bewegungen, inmit-
ten unserer Kunstanstalten, Concert-, Theater- und Museenfreuden sich des gro-
tesken Neben- und Uebereinander aller möglichen Stile bewusst werden. Die
Formen, Farben, Producte und Curiositäten aller Zeiten und aller Zonen häuft
der Deutsche um sich auf [...] er selbst bleibt ruhig in diesem Tumult aller Stile
sitzen.] N. nimmt hier ein schon in der Geburt der Tragödie traktiertes Thema
wieder auf. Vgl. beispielsweise GT 18 (KSA 1, 119, 33 - 120, 4): „[...] umsonst
dass man sich an alle grossen productiven Perioden und Naturen imitatorisch
anlehnt, umsonst dass man die ganze ,Weltlitteratur‘ zum Tröste des modernen
Menschen um ihn versammelt und ihn mitten unter die Kunststile und Künstler
aller Zeiten hinstellt [...]“. Wagner hatte mit analoger Stoßrichtung Kulturkritik
geübt (GSD IX, 119). - Später formuliert N. in Jenseits von Gut und Böse seine
Kritik nochmals mit ähnlicher Akzentsetzung: „Der europäische Mischmensch
[...] hat die Historie nöthig als die Vorrathskammer der Kostüme“ (JGB223,
KSA 5,157, 2-4). Am „neunzehnte[n] Jahrhundert“ diagnostiziert N. die „schnel-
len Vorlieben und Wechsel der Stil-Maskeraden“ (KSA 5, 157, 6-8), durch die er
die Epoche zum „Karneval grossen Stils“ disponiert sieht (KSA 5, 157, 18-19).
Volkes bezeichnet worden“ (KSA 1, 274, 26-29). - Eine Vorstufe zu N.s Kultur-
begriff findet sich im Nachlass: „Die Kultur eines Volkes offenbart sich in der
einheitlichen Bändigung der Triebe dieses Volkes: die Philosophie
bändigt den Erkenntnißtrieb, die Kunst den Formentrieb [...]“ (NL 1872-1873,
19 [41], KSA 7, 432). Zuvor spezifiziert N. diese Vorstellung im Hinblick auf die
griechische Antike: „In allen griechischen Trieben zeigt sich eine bändigen-
de Einheit: nennen wir sie den hellenischen Willen“ (NL 1872-1873,19 [41],
KSA 7, 432).
Dass N. die griechische Kultur auch vor dem Hintergrund der Epigonen-
problematik des 19. Jahrhunderts als lehrreich, ja geradezu vorbildlich betrach-
tet, erhellt programmatisch aus der markanten Schlusspassage von UBII HL
(KSA 1, 333, 6 - 334,14). Hier analogisiert N. die Situation der antiken Griechen
mit dem problematischen Status quo seiner eigenen Zeitgenossen: „Es gab
Jahrhunderte, in denen die Griechen in einer ähnlichen Gefahr sich befanden,
in der wir uns befinden, nämlich an der Ueberschwemmung durch das Fremde
und Vergangne, an der,Historie4 zu Grunde zu gehen“ (333, 6-9). Mit der Über-
fülle heterogener Impulse aus anderen Kulturen konfrontiert, lernten die Grie-
chen aber „allmählich das Chaos zu organisiren“, indem sie sich „auf
sich selbst“ besannen, „nicht lange die überhäuften Erben und Epigonen des
ganzen Orients“ blieben und dann sogar die „Vorbilder aller kommenden Cul-
turvölker“ wurden (333, 17-26).
163, 9-25 In diesem chaotischen Durcheinander aller Stile lebt aber der Deut-
sche unserer Tage [...]. Alles sollte ihn doch belehren: [...] inmitten des geselligen
Verkehrs sollte er sich des Ursprunges seiner Manieren und Bewegungen, inmit-
ten unserer Kunstanstalten, Concert-, Theater- und Museenfreuden sich des gro-
tesken Neben- und Uebereinander aller möglichen Stile bewusst werden. Die
Formen, Farben, Producte und Curiositäten aller Zeiten und aller Zonen häuft
der Deutsche um sich auf [...] er selbst bleibt ruhig in diesem Tumult aller Stile
sitzen.] N. nimmt hier ein schon in der Geburt der Tragödie traktiertes Thema
wieder auf. Vgl. beispielsweise GT 18 (KSA 1, 119, 33 - 120, 4): „[...] umsonst
dass man sich an alle grossen productiven Perioden und Naturen imitatorisch
anlehnt, umsonst dass man die ganze ,Weltlitteratur‘ zum Tröste des modernen
Menschen um ihn versammelt und ihn mitten unter die Kunststile und Künstler
aller Zeiten hinstellt [...]“. Wagner hatte mit analoger Stoßrichtung Kulturkritik
geübt (GSD IX, 119). - Später formuliert N. in Jenseits von Gut und Böse seine
Kritik nochmals mit ähnlicher Akzentsetzung: „Der europäische Mischmensch
[...] hat die Historie nöthig als die Vorrathskammer der Kostüme“ (JGB223,
KSA 5,157, 2-4). Am „neunzehnte[n] Jahrhundert“ diagnostiziert N. die „schnel-
len Vorlieben und Wechsel der Stil-Maskeraden“ (KSA 5, 157, 6-8), durch die er
die Epoche zum „Karneval grossen Stils“ disponiert sieht (KSA 5, 157, 18-19).