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Neymeyr, Barbara; Nietzsche, Friedrich; Heidelberger Akademie der Wissenschaften [Mitarb.]
Historischer und kritischer Kommentar zu Friedrich Nietzsches Werken (Band 1/2): Kommentar zu Nietzsches Unzeitgemässen Betrachtungen: I. David Strauss der Bekenner und der Schriftsteller, II. Vom Nutzen und Nachtheil der Historie für das Leben — Berlin, Boston: De Gruyter, 2020

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https://doi.org/10.11588/diglit.69926#0114
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88 David Strauss der Bekenner und der Schriftsteller

Philister ist bekanntlich dem Studentenleben entnommen und bezeichnet in
seinem weiteren, doch ganz populären Sinne den Gegensatz des Musensohnes,
des Künstlers, des ächten Kulturmenschen. Der Bildungsphilister aber [...] un-
terscheidet sich von der allgemeinen Idee der Gattung , Philister4 durch Einen
Aberglauben: er wähnt selber Musensohn und Kulturmensch zu sein; ein unbe-
greiflicher Wahn, aus dem hervorgeht, dass er gar nicht weiss, was der Philis-
ter und was sein Gegensatz ist“ (165, 7-16). - Im Hinblick auf den Begriff ,Bil-
dungsphilister4, der auch in UBII HL Verwendung findet (KSA 1, 326, 13-14),
erhebt N. einen Prioritätsanspruch, wenn er in der Vorrede zu Menschliches,
Allzumenschliches II sich selbst „die Vaterschaft des jetzt viel gebrauchten und
missbrauchten Wortes“ zuschreibt (KSA 2, 370, 2-3). Und in der Retrospektive
auf UB I DS erklärt N. in Ecce homo: „das Wort Bildungsphilister ist von meiner
Schrift her in der Sprache übrig geblieben“ (KSA 6, 317, 16-17).
N.s Prioritätsanspruch ist jedoch nicht berechtigt, weil der Begriff ,Bil-
dungsphilister4 etymologischen Forschungen zufolge bereits ab 1860 aufge-
kommen ist (vgl. KSA 14, 163). - Schon der Hebbel-Biograph Emil Kuh, der
mit Gottfried Keller im Briefwechsel stand und 1878 in seiner umfangreichen
Rezension Professor Friedrich Nietzsche und David Friedrich Strauß. Eine kriti-
sche Studie heftig gegen N.s UB I DS polemisierte (vgl. dazu Kapitel 1.5 des
Überblickskommentars), stellte N.s „Patent“ auf den Begriff „des Bildungsphi-
listers“ in Frage, weil er ihn „längst von Anderen gehört“ hatte (zitiert nach
Hauke Reich 2013, 430). Vgl. dazu später auch Herman Meyers Abhandlung
Nietzsches „Bildungsphilister“ (1963, 179-201). Friedrich Kluges Etymologisches
Wörterbuch der deutschen Sprache (20. Auflage, 1967) nennt einen Beleg zum
Begriff ,Bildungsphilister4 aus dem Jahr 1866. Vor N.s UB I DS und UB II HL
betont auch Rudolf Haym schon 1870 „die prosaische Superklugheit der Bil-
dungsphilister“ (Haym 1870, 88). Und das Abstraktum ,Bildungsphilisterei4 fin-
det sich bereits in Bettina von Arnims Briefwechsel mit Philipp Nathusius, der
1848 unter dem Titel Ilius Pamphilius und die Ambrosia erschien (vgl. Bettina
von Arnim: Sämmtliche Schriften, Neue Ausgabe, Bd. 7, 1857, 265: „Friß und
raisonire nicht, dies Sprüchelchen ist ein Talisman der Dich vor mancher
Bildungsphilisterei abhalten kann“).
Im 19. Jahrhundert ist der Begriff ,Bildungsphilister4 noch stark vom ro-
mantischen Begriff des ,Philisters4 geprägt, der auch in der Studentensprache
gebräuchlich war. Nach dem von Jacob und Wilhelm Grimm begründeten Deut-
schen Wörterbuch ist der Philister „ein nüchterner, pedantischer, beschränkter,
lederner mensch ohne sinn für eine höhere und freiere auffassung“, mithin
ein Spießbürger (Deutsches Wörterbuch, Bd. 13, 1889, Sp. 1827). Das Deutsche
Wörterbuch bietet auch Belege aus Werken Goethes und Heines (vgl. ebd.). -
Tieck gebrauchte in seinen satirischen Märchendramen Prinz Zerbino (1799)
 
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