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Neymeyr, Barbara; Nietzsche, Friedrich; Heidelberger Akademie der Wissenschaften [Mitarb.]
Historischer und kritischer Kommentar zu Friedrich Nietzsches Werken (Band 1/2): Kommentar zu Nietzsches Unzeitgemässen Betrachtungen: I. David Strauss der Bekenner und der Schriftsteller, II. Vom Nutzen und Nachtheil der Historie für das Leben — Berlin, Boston: De Gruyter, 2020

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https://doi.org/10.11588/diglit.69926#0131
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Stellenkommentar UB I DS 2, KSA 1, S. 169-170 105

vernünftig“ (G. W. F. Hegel: Werke in 20 Bänden, 1986, Bd. 7, 24). - Auf dieselbe
These Hegels nimmt N. auch in einer späteren Partie von UB I DS Bezug, wenn
er von der „Hegelischen Anbetung des Wirklichen als des Vernünftigen“
spricht und diese im Sinne einer „Vergötterung des Erfolges“ deutet
(197, 7-9). - N. rekurriert in UB I DS mit polemischer Intention auf das bekannte
Diktum, ohne es im Hinblick auf die Prämissen von Hegels Geschichtsphilosophie
zu reflektieren und die spezifische Bedeutung des Wirklichkeitsbegriffs im Rah-
men des Hegelschen Idealismus zu berücksichtigen. Da Hegel den historischen
Prozess als eine Selbstentfaltung des objektiven Geistes versteht, betrachtet er
die jeweils aktuelle Wirklichkeit im Kontext der geschichtlichen Entwicklung
nicht nur als historisch bedingt, sondern zugleich auch als notwendig und ver-
nünftig.
N. paraphrasiert Hegels Aussage, um sie als griffige „Formel für die Vergöt-
terung der Alltäglichkeit“ (170, 2-3) oder für die Apotheose des Erfolgs (197, 8-
9) zu desavouieren. Indem N. mit dem Schlagwort von der „Vernünftigkeit alles
Wirklichen“ den Idealismus Hegels ad absurdum zu führen versucht, kritisiert
er zugleich die philiströse bürgerliche Gesellschaft, die sich selbst mithilfe von
Hegels Philosophie legitimieren will, um ihre bequeme Affirmation des Status
quo zu rechtfertigen und die eigene Trivialität dabei künstlich zu Überhöhen.
Wie N. die Hegel-Paraphrase polemisch instrumentalisiert, zeigt seine Unter-
stellung: Hegels Philosophie „schmeichelte sich damit bei dem Bildungsphilis-
ter ein, der [...] sich allein als wirklich begreift und seine Wirklichkeit als das
Maass der Vernunft in der Welt behandelt“ (170, 4-7). Und wenn N. in einem
Nachlass-Notat dem Philister Strauß attestiert, ihm gelte „alles Vorhandene so
ziemlich als vernünftig“ (NL 1873, TI [32], KSA 7, 596), dann rekurriert er hier
erneut auf das Schlagwort von der „Vernünftigkeit alles Wirklichen“.
Dass N.s polemische Suppositionen auf einem Missverständnis der Hegel-
schen Philosophie basieren, ist an der Vorrede der Grundlinien der Philosophie
des Rechts zu erkennen. Hier erläutert Hegel seine pointierte These „Was ver-
nünftig ist, das ist wirklich; / und was wirklich ist, das ist vernünftig“ (ebd.,
24). In dieser Textpassage expliziert er sowohl sein Realitätskonzept als auch
sein Verständnis der Philosophie generell: „Wenn [...] die Idee für das gilt, was
nur so eine Idee, eine Vorstellung in einem Meinen ist, so gewährt hingegen
die Philosophie die Einsicht, daß nichts wirklich ist als die Idee. Darauf kommt
es dann an, in dem Scheine des Zeitlichen und Vorübergehenden die Substanz,
die immanent, und das Ewige, das gegenwärtig ist, zu erkennen. Denn das
Vernünftige, was synonym ist mit der Idee, indem es in seiner Wirklichkeit
zugleich in die äußere Existenz tritt, tritt in einem unendlichen Reichtum von
Formen, Erscheinungen und Gestaltungen hervor [...]. Die unendlich mannig-
faltigen Verhältnisse aber, die sich in dieser Äußerlichkeit, durch das Scheinen
 
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