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Neymeyr, Barbara; Nietzsche, Friedrich; Heidelberger Akademie der Wissenschaften [Mitarb.]
Historischer und kritischer Kommentar zu Friedrich Nietzsches Werken (Band 1/2): Kommentar zu Nietzsches Unzeitgemässen Betrachtungen: I. David Strauss der Bekenner und der Schriftsteller, II. Vom Nutzen und Nachtheil der Historie für das Leben — Berlin, Boston: De Gruyter, 2020

DOI Seite / Zitierlink: 
https://doi.org/10.11588/diglit.69926#0130
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104 David Strauss der Bekenner und der Schriftsteller

die Horazische Maxime „nil admirari“ kulturkritisch, indem er von ihren „un-
philosophischen Bewunderer[n]“ spricht, also gerade nicht von denen, die dem
philosophischen ,thaumazein‘ im Sinne der Antike folgen. Anstelle einer intel-
lektuellen Sensibilisierung durch das ,Staunen4 über die vielfältigen Phänome-
ne in der Realität betont N. gerade „die Abstumpfung“ seiner Zeitgenossen.
Deren Prinzip, sich über nichts zu wundern, leistet nach N.s Überzeugung zu-
gleich einer strategischen Zielsetzung Vorschub: Durch einen historischen Re-
lativismus versuchen sie jede kulturelle Erneuerung zu blockieren und sich
selbst dem Anspruch genuiner „Kulturforderungen“ (169, 31) zu entziehen. In-
dem sich diese Zeitgenossen für die bequeme Position der Mediokrität ent-
scheiden, wenden sie sich zugleich gegen „den dominirenden Genius“ (169,
30-31) und behindern dadurch die kulturelle Weiterentwicklung. Ähnlich argu-
mentiert N. auch in UBIII SE: Hier ist der geistesaristokratische Impetus noch
stärker ausgeprägt als in UB I DS. - Auch in UB IV WB zitiert N. die Horazische
Maxime „Nil admirari“, und zwar im Zusammenhang mit der kritischen Epo-
chendiagnose, die er gegen Fehlhaltungen in der Mentalität seiner Zeitgenos-
sen richtet, insbesondere gegen Materialismus und Neugierde (vgl. KSA 462, 8,
20). Vgl. dazu ausführlicher NK 462, 11. - In der Morgenröthe (KSA 3, 188, 19-
22) thematisiert N. später ebenfalls dieses Horazische Leitprinzip. Vgl. dazu
(und zur Begründung von Schopenhauers positiver Reaktion auf diese Maxi-
me) NK 3/1, 291-293 (zu Text 207 der Morgenröthe).
169, 34 - 170, 2 Eine Philosophie, die unter krausen Schnörkeln das Philisterbe-
kenntniss ihres Urhebers ko'isch verhüllte] Mit seiner gelehrten Anspielung be-
tont N., dass eine derartige Philosophie die Philistrosität ihres Autors so wenig
zu kaschieren vermag, dass diese trotz der prätentiösen Hülle deutlich sichtbar
bleibt. Der Kontext zeigt, dass N. hier vor allem die Philosophie Hegels meint
(vgl. NK 170, 3-4). - Das Adjektiv „ko’isch“ bezieht sich auf die vor der Süd-
westküste Kleinasiens gelegene Insel Kos. Sie war nicht nur berühmt durch
ihre Ärzteschule und den Tempel des Gottes Asklepios, sondern auch durch
ihre Vorliebe für die Produktion durchsichtiger Gewänder, die den Körper na-
hezu unbekleidet erscheinen ließen. Diese Kleidung bestand aus einem Seiden-
stoff von besonderer Transparenz, der aus dem Gespinst der wilden Seidenrau-
pe hergestellt wurde. Römische Dichter der Kaiserzeit erwähnen ausdrücklich
kölsche Gewänder (coae vestes) als eine leichte Luxusbekleidung, die vor allem
von Lebedamen getragen wurde. Vgl. Horaz (Sat. 1,2, 101) und Tibull (2, 3, 57).
170, 3-4 Vernünftigkeit alles Wirklichen] Hier nimmt N. implizit auf die Philo-
sophie Hegels Bezug. Vgl. dazu die auf den 25. Juni 1820 datierte Vorrede zu
Hegels Werk Grundlinien der Philosophie des Rechts (1821), wo sich die Aussage
findet: „Was vernünftig ist, das ist wirklich; / und was wirklich ist, das ist
 
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