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Neymeyr, Barbara; Nietzsche, Friedrich; Heidelberger Akademie der Wissenschaften [Mitarb.]
Historischer und kritischer Kommentar zu Friedrich Nietzsches Werken (Band 1/2): Kommentar zu Nietzsches Unzeitgemässen Betrachtungen: I. David Strauss der Bekenner und der Schriftsteller, II. Vom Nutzen und Nachtheil der Historie für das Leben — Berlin, Boston: De Gruyter, 2020

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https://doi.org/10.11588/diglit.69926#0153
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Stellenkommentar UB I DS 4, KSA 1, S. 181-182 127

„Jede Wissenschaft hat ihre Begeisterung als gesteigerten Zustand; in der Poe-
sie aber ist sie zugleich der ganze Umfang des Objectes: der Inhalt. Dieser an-
gelernte Enthusiasmus, dieser Miethpferd-Galopp geht nun durch das ganze
Streben des Herrn Gervinus. Man kann wohl von ihm behaupten, dass er für
die Wissenschaft ebenso verdorben ist, als für die Kunst“ (Grillparzer: Sämmtli-
che Werke, Bd. 9, 1872, 175). - Franz Grillparzer (1791-1872) gilt als der bedeu-
tendste österreichische Dramenautor in der Nachfolge der Weimarer Klassik.
Eine intensive Grillparzer-Lektüre N.s ist für die frühen 1870er Jahre belegt. In
einem Nachlass-Notat zählt er „Grillparzer“ zusammen mit „Lessing Winckel-
mann Hamann Herder“ sowie „Schiller Goethe“, „Schopenhauer“ und „Wag-
ner“ zur „Ästhetik in Deutschland“ (NL 1872-73, 19 [286], KSA 7, 509).
182, 17-22 Strauss hat es einem seiner Widersacher schwer übel genommen,
dass er von seinen Reverenzen vor Lessing redet - [...] Strauss freilich behauptet,
das müsse ein Stumpfsinniger sein, der seinen einfachen Worten über Lessing in
No. 90 nicht anfühle, dass sie warm aus dem Herzen kommen.] Vgl. dazu Strauß’
ANG, Nachwort als Vorwort, 20: „Wer den einfachen Worten über Lessing in
meiner Nummer 90 nicht anfühlt, daß sie warm aus dem Herzen kommen, der
muß, das darf ich wohl sagen, ein Stumpfsinniger sein. Das ist Herr Dove nicht;
und doch hat er die Stirne, weil er sich einmal auf meine Kosten in guten
Humor gesetzt hat, von meinen Reverenzen vor Lessing zu reden.“ Damit
nimmt David Friedrich Strauß auf das 90. Kapitel von ANG Bezug, in dem er
auf Lessings Leben und Werk eingeht. (Das obige Zitat, mit dem sich David
Friedrich Strauß gegen Alfred Dove wendet, findet sich auch in Strauß’ Text
Ein Nachwort als Vorwort zu den neuen Auflagen meiner Schrift ,Der alte und
der neue Glaube‘ (in: ders.: Gesammelte Schriften, Bd. 6, 1877, 264).
Vergleicht man N.s Aussage im obigen Lemma allerdings mit dem Zitat aus
Strauß’ ANG, so wird deutlich, dass N. den Kontext des Etiketts „ein Stumpfsin-
niger“ umkodiert: Während N. dem Leser suggeriert, Strauß diskreditiere sei-
nen „Widersacher“ als stumpfsinnig, spricht Strauß selbst ihm dieses Attribut
ausdrücklich ab: „ein Stumpfsinniger [...] ist Herr Dove nicht“ (ebd.). - Erklä-
ren lässt sich diese Divergenz der Aussagen damit, dass N. Alfred Dove, den
Herausgeber der Zeitschrift Im neuen Reich, im Januar 1873 im Musikalischen
Wochenblatt attackiert hat, das N.s Verleger Ernst Wilhelm Fritzsch in Leipzig
herausgab. Das zeigt N.s Polemik Ein Neujahrswort an den Herausgeber der
Wochenschrift ,Im neuen Reich‘ (KSA 1, 793-797). Den Titel hat N. für seine kriti-
sche Replik bewusst als Analogon formuliert: Ironisch betont er hier selbst im
Einleitungssatz, dass „Herrn Alfred Dove“ das „Unglück widerfahren“ sei,
seine „schmählich[en]“ verbalen Explosionen in einem „Neujahrsworte an die
deutsche Geistesarbeit“ zu verlautbaren (KSA 1, 795,1-5). Der „Münchener Arzt
Puschmann“ (1844-1899) hat - wie N. mit einem Zitat von Dove zeigt - „Ri-
 
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