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Neymeyr, Barbara; Nietzsche, Friedrich; Heidelberger Akademie der Wissenschaften [Mitarb.]
Historischer und kritischer Kommentar zu Friedrich Nietzsches Werken (Band 1/2): Kommentar zu Nietzsches Unzeitgemässen Betrachtungen: I. David Strauss der Bekenner und der Schriftsteller, II. Vom Nutzen und Nachtheil der Historie für das Leben — Berlin, Boston: De Gruyter, 2020

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https://doi.org/10.11588/diglit.69926#0222
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196 David Strauss der Bekenner und der Schriftsteller

in England studierte Voltaire Werke der englischen Empiristen, darunter Locke.
Seit 1750 war er für einige Zeit am Hof Friedrichs des Großen zu Gast, bis er
dort in Ungnade fiel. Von Voltaire, der auch eine kulturhistorisch orientierte
Geschichtsschreibung begründete, ist ein umfangreiches CEuvre überliefert, da-
runter mehr als 50 Bühnenstücke, außerdem philosophische Essays und Kurz-
romane sowie zahlreiche Briefe.
N.s eigene Wertschätzung für Voltaire geht aus etlichen Textbelegen her-
vor. So schrieb er am 8. April 1876 in einem Brief an seine Schwester Elisabeth:
„Meine erste Verehrung galt Voltaire, dessen Haus in Fernex [sic! recte: Ferney]
ich aufsuchte“ (KSB 5, Nr. 516, S. 146). Das Landschloss in Ferney, nördlich von
Genf, war Voltaires Alterssitz. Dort verfasste er weitere aufklärerische Schrif-
ten, darunter den Tratte sur la Tolerance (1763), mit dem er auch auf problema-
tische aktuelle Ereignisse seiner Zeit reagierte, etwa auf die von der Kirche
betriebene Hinrichtung eines unschuldigen alten Mannes (Jean Cales). N.s Be-
such in Ferney war mithin vermutlich auch antiklerikal motiviert und ent-
sprach zudem seiner Sympathie für den ,philosophe guerrier4, die mit seinem
eigenen Selbstverständnis korrespondierte.
Bezeichnenderweise widmete N. dem französischen Aufklärer sein Werk
Menschliches, Allzumenschliches zum 100. Todestag: Noch vor der Vorrede zu
MA artikuliert N. seinen Wunsch, in der „Nähe des 30. Mai 1878 [...] einem der
grössten Befreier des Geistes zur rechten Stunde eine persönliche Huldigung
darzubringen“ (KSA 2,10). Zuvor plante N. die Publikation der Schrift in einem
Brief an seinen Verleger Schmeitzner mit ausdrücklicher Bezugnahme „auf die
Säcularfeier Voltaire’s (30. Mai)“ und nennt dessen Namen im gewünschten
Buchtitel explizit: „Menschliches, Allzumenschliches. / Ein Buch /
für / freie Geister. / Dem Andenken Voltaire’s / geweiht / zur Gedächtnissfeier
seines Todestages, / des 30. Mai 1778. / Von / Friedrich Nietzsche“ (KSB 5,
Nr. 673, S. 293). Die Vorstellung des Freigeistes bringt N. auch bereits in
UB I DS mit Voltaire in Verbindung (217, 1-2). Ein Nachlass-Notat von 1878 lau-
tet: „Voltaire, nach Goethe ,die allgemeine Quelle des Lichts“4 (NL 1878, 30
[160], KSA 8, 550). Neun Jahre später notiert N.: „Voltaire noch die humanitä
im Sinne der Renaissance begreifend, insgleichen die virtü (als ,hohe Cultur4),
er kämpft für [...] die Sache des Geschmacks, der Wissenschaft, der Künste, die
Sache des Fortschritts selbst und der Civilisation“ (NL 1887, 9 [184], KSA 12,
447).
In Ecce homo identifiziert sich N. im Rückblick auf Menschliches, Allzu-
menschliches emphatisch mit Voltaire und begründet die vorzeitige Publikation
des Werkes mit dessen 100. „Todesfeier“, um dann selbstbewusst fortzufahren:
„Voltaire ist, im Gegensatz zu allem, was nach ihm schrieb, vor allem ein
grandseigneur des Geistes: genau das, was ich auch bin. - Der Name Voltaire
 
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