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Neymeyr, Barbara; Nietzsche, Friedrich; Heidelberger Akademie der Wissenschaften [Mitarb.]
Historischer und kritischer Kommentar zu Friedrich Nietzsches Werken (Band 1/2): Kommentar zu Nietzsches Unzeitgemässen Betrachtungen: I. David Strauss der Bekenner und der Schriftsteller, II. Vom Nutzen und Nachtheil der Historie für das Leben — Berlin, Boston: De Gruyter, 2020

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https://doi.org/10.11588/diglit.69926#0225
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Stellenkommentar UB I DS 9, KSA 1, S. 216 199

Familienblatt. Dieses erste erfolgreiche deutsche Massenblatt erschien ab 1853,
hatte im Jahre 1876 bereits eine Auflagenhöhe von 386 OOO und wurde von
Millionen von Lesern rezipiert. David Friedrich Strauß stimmte mit der Grund-
tendenz der Zeitschrift Die Gartenlaube überein, die seit der Reichsgründung
die preußische Politik propagierte und sich polemisch am Kulturkampf betei-
ligte, in dem sich N. von einem anderen Standpunkt aus engagierte. Vor allem
musste ihm das Eintreten der Gartenlaube für ein liberales Weltbild, wenn
auch in der konservativen Variante der Nationalliberalen, ein Ärgernis sein.
Denn seit der Geburt der Tragödie polemisierte er gegen den Liberalismus4.
Bereits an früherer Stelle von UB I DS spielt N. auf die Zeitschrift Die Gartenlau-
be an, indem er ebenfalls die Garten-Metaphorik einsetzt: So spricht er von der
behaglichen Familien-Alltagsidylle der „Gartenhaus-Bewohner“ (215, 18-19)
und bringt sie mit dem „Rosenkranz öffentlicher Meinungen“ (215, 23) in Ver-
bindung.
Schon in der Anfangspartie des 9. Kapitels von UB I DS exponiert N. die
Leitmetaphorik von „Haus“, „Gebäude“ und „Architektur“ (209), um die defizi-
täre Konstruktion und Konzeption von ANG bildhaft zu veranschaulichen. So
will er untersuchen, ob Strauß „im Stande ist, sein Haus als Schriftsteller zu
bauen und ob er wirklich die Architektur des Buches versteht“ (209, 3-5). Im
vorliegenden Kontext führt N. diese Metaphorik fort: „Nicht einen Tempel,
nicht ein Wohnhaus, sondern ein Gartenhaus inmitten aller Gartenkünste hin-
zustellen, war der Traum unseres Architekten“ (214, 34 - 215, 2). Und wenn N.
„die volle Gemächlichkeit unserer Gartenhaus-Bewohner“ betont, die „bei ih-
ren Frauen und Kindern unter ihren Zeitungen und politischen Alltagsgesprä-
chen“ zu finden sind (215, 18-20), dann spielt er erneut auf die bürgerliche
Familienzeitschrift Die Gartenlaube an. - Allerdings ergibt sich durch N.s Cha-
rakterisierung „unser epikureischer Garten-Gott“ (216, 6-7) für Strauß zugleich
ein Spektrum libidinöser Anspielungen, das ihn in eine Affinität zum antiken
Gartengott Priapos und zum Lust-Konzept der epikureischen Lehre bringt. Vor
diesem Hintergrund lässt der assoziative Bezug zur Zeitschrift Die Gartenlaube
einen Kontrast zwischen priapischer Libertinage und einem normativen bür-
gerlichen Familienethos entstehen und generiert dadurch einen ironischen Ef-
fekt.
216, 16-21 Wir verrathen ein Geheimniss: unser Magister weiss nicht immer,
was er lieber sein will, Voltaire oder Lessing, aber um keinen Preis ein Philister,
womöglich Beides, Lessing und Voltaire - auf dass erfüllet werde, was da ge-
schrieben stehet: „er hatte gar keinen Charakter, sondern wenn er einen haben
wollte, so musste er immer erst einen annehmen.“] Mit seiner ironischen Einlei-
tung zum Lichtenberg-Zitat spielt N. auf eine in der Bibel häufig vorkommende
Wendung an, nach der sich das im Alten Testament Verheißene im Neuen Tes-
 
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