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Neymeyr, Barbara; Nietzsche, Friedrich; Heidelberger Akademie der Wissenschaften [Mitarb.]
Historischer und kritischer Kommentar zu Friedrich Nietzsches Werken (Band 1/2): Kommentar zu Nietzsches Unzeitgemässen Betrachtungen: I. David Strauss der Bekenner und der Schriftsteller, II. Vom Nutzen und Nachtheil der Historie für das Leben — Berlin, Boston: De Gruyter, 2020

DOI Seite / Zitierlink: 
https://doi.org/10.11588/diglit.69926#0224
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198 David Strauss der Bekenner und der Schriftsteller

N. weiß das auf autonome Lebensgestaltung zielende Ethos Epikurs zu
schätzen und betont den Wert selbstgenügsamer Refugien, weil sie besonders
gute Rahmenbedingungen zur Steigerung der intellektuellen Leistungsfähig-
keit bieten. Und noch aus anderen Gründen gibt er einer epikureischen Lebens-
haltung den Vorzug gegenüber einem stoischen Ethos: In der Fröhlichen Wzs-
senschaft empfiehlt er ,,alle[n] Menschen der geistigen Arbeit“ im Text 306
„Stoiker und Epikureer“ nachdrücklich, „sich epikureisch einzurichten“
(KSA 3, 544, 20-21) und sich dadurch ihre intellektuelle Sensibilität zu bewah-
ren, die im Falle einer stoischen Apatheia in Gefahr geriete. Für die Intellektu-
ellen wäre es „nämlich der Verlust der Verluste, die feine Reizbarkeit einzubüs-
sen und die stoische harte Haut mit Igelstacheln dagegen geschenkt zu
bekommen“ (KSA 3, 544, 21-24). Zu N.s Kritik am Stoizismus vgl. NK 211, 31-33
sowie ausführlich Neymeyr 2009a, 65-92.
Die Polemik N.s gegen David Friedrich Strauß, der im vorliegenden Kon-
text als „epikureischer Garten-Gott“ und kurz danach noch plastischer als „der
leicht geschürzte Gartenkünstler“ (216, 10-11) erscheint, gewinnt durch einen
zusätzlichen libidinösen Anspielungshorizont noch erheblich an satirischer
Schärfe. Denn durch die Priapea bzw. Carmina Priapeia, eine bekannte Samm-
lung erotischer Gedichte, die in der Antike anonym veröffentlicht wurde,
kommt zugleich auch der in zahlreichen antiken Texten gefeierte Gartengott
Priapos ins Spiel, ein Sohn des Dionysos und der Aphrodite, der in der griechi-
schen Mythologie als Gott der Fruchtbarkeit gilt. Seit jeher erregt er durch seine
ithyphallische Gestalt bei gläubigen Christen Anstoß, so dass die unter Beru-
fung auf den Gartengott Priapos praktizierten Kulte auch von den Kirchenvätern
Augustinus und Hieronymus scharf verurteilt wurden. Dass N. dem Theologen
David Friedrich Strauß in UBI DS nur wenig später eine Selbststilisierung nach
dem Vorbild von Lessing oder Voltaire attestiert und ihm dabei die Überlegung
zuschreibt, „ob es ihm besser anstehe, sich als faunischen, freigeisterischen
Alten in der Art Voltaires zu gebärden“ (217, 1-2), verstärkt die sexuell konno-
tierte Semantik. Denn das vom altrömischen Feld- und Waldgott Faunus abge-
leitete Adjektiv ,faunisch‘ bedeutet: lüstern. Und wenn später in Jenseits von
Gut und Böse vom „Gartengott Epicur“ die Rede ist (KSA 5, 21, 17), sind sinnli-
che Konnotationen auch dieser Charakterisierung inhärent, zumal die pro-
grammatische Lust-Orientierung Epikurs, der allerdings vorrangig eine durch
Bedürfnisregulation mögliche Eudaimonia intendierte, schon in der Antike
zum Missverständnis einer primären Libido-Fixierung der epikureische Lehre
geführt hat.
Indem N. auch die Assoziation von Strauß’ Schrift mit einer banalen Gar-
ten-Idylle nahelegt, spielt er zugleich auf die damals bekannte und verbreitete
bürgerliche Zeitschrift Die Gartenlaube an, deren Untertitel lautete: Illustriertes
 
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