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Neymeyr, Barbara; Nietzsche, Friedrich; Heidelberger Akademie der Wissenschaften [Mitarb.]
Historischer und kritischer Kommentar zu Friedrich Nietzsches Werken (Band 1/2): Kommentar zu Nietzsches Unzeitgemässen Betrachtungen: I. David Strauss der Bekenner und der Schriftsteller, II. Vom Nutzen und Nachtheil der Historie für das Leben — Berlin, Boston: De Gruyter, 2020

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https://doi.org/10.11588/diglit.69926#0227
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Stellenkommentar UB I DS 10, KSA 1, S. 217 201

die Götter in seliger Selbstgenügsamkeit in sogenannten ,Intermundien‘
hausen, also in Zwischenwelten, ohne Einfluss auf die Naturgesetze und auf
irdische Konstellationen zu nehmen. Diese thematische Vernetzung wird im
vorliegenden Kontext insofern nahegelegt, als Strauß N. in UB I DS als „epiku-
reischer Garten-Gott“ erscheint (vgl. NK 216, 6-7).
Unter ,Freigeistern4 oder ,freien Geistern4 versteht N. diejenigen, die ein
unkonventionelles, autonomes Denken propagieren und sich dabei radikal von
den geistigen Fesseln der Tradition lossagen. Der programmatische Untertitel
seines Buches Menschliches, Allzumenschliches lautet sowohl 1878 in der Erst-
ausgabe von MA I als auch in der (um MA II erweiterten) Neuen Ausgabe von
1886: Ein Buch für freie Geister. - Zu Voltaire und N.s Einstellung zu ihm vgl.
ausführlicher NK 214, 20-27 und NK 218, 4-5. Zum Typus der ,Freigeister4 oder
,Freidenker4 bei N. vor dem Horizont der Tradition vgl. auch Volker Gerhardt
2011 und NK 3/1, 23, 35. - In der Götzen-Dämmerung übt N. später Kritik an der
„Entartung unsres ersten deutschen Freigeistes, des klugen David Strauss,
zum Verfasser eines Bierbank-Evangeliums und ,neuen Glaubens4 44 (KSA 6,
104, 31 - 105, 1). Damit spielt N. auf die religionskritische Komponente der
Freigeisterei an und würdigt in dieser Hinsicht die revolutionären Konzepte
des frühen Strauß, der durch sein Erstlingswerk Das Leben Jesu, kritisch bear-
beitet (1835) unter Rückgriff auf Grundtendenzen des Deismus und auf die his-
torisch-kritische Bibelforschung von Reimarus (vgl. dazu NK 183, 14 - 184, 5
und NK 231, 2-5) theologische Kontroversen ausgelöst hatte.
In Ecce homo rühmt N. im Rückblick auf „Die Unzeitgemässen“ (KSA 6,
316, 1) die eigene Geschicklichkeit, für seine exemplarische Attacke in UB I DS
gerade David Friedrich Strauß auserkoren und diesen dann in einem „tödtlich“
verlaufenen „Attentat“ (KSA 6, 317, 27-28) niedergestreckt zu haben: „Und wie
ich mir meinen Gegner gewählt hatte! den ersten deutschen Freigeist!... In der
That, eine ganz neue Art Freigeisterei kam damit zum ersten Ausdruck: bis
heute ist mir Nichts fremder und unverwandter als die ganze europäische und
amerikanische Species von ,libres penseurs4. Mit ihnen als mit unverbesserli-
chen Flachköpfen und Hanswürsten der ,modernen Ideen4 befinde ich mich
sogar in einem tieferen Zwiespalt als mit Irgendwem von ihren Gegnern“
(KSA 6, 319, 6-13). Abschließend begründet N. in dieser Passage von EH die
Differenz zu den noch „ans ,Ideal4“ glaubenden und insofern nicht hinreichend
radikalen Freigeistern, mithin auch sein spezifisches Verhältnis zu Strauß, in-
dem er ihnen die selbstbewusste Feststellung entgegenhält: „Ich bin der erste
Immoralist“ (KSA 6, 319, 17).
217, 8-15 „auch sind die Vorzüge“, sagt er, „überall dieselben: einfache Natür-
lichkeit, durchsichtige Klarheit, lebendige Beweglichkeit, gefällige Anmuth. Wär-
me und Nachdruck fehlen, wo sie hingehören, nicht; gegen Schwulst und Affecta-
 
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