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Neymeyr, Barbara; Nietzsche, Friedrich; Heidelberger Akademie der Wissenschaften [Mitarb.]
Historischer und kritischer Kommentar zu Friedrich Nietzsches Werken (Band 1/2): Kommentar zu Nietzsches Unzeitgemässen Betrachtungen: I. David Strauss der Bekenner und der Schriftsteller, II. Vom Nutzen und Nachtheil der Historie für das Leben — Berlin, Boston: De Gruyter, 2020

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https://doi.org/10.11588/diglit.69926#0228
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202 David Strauss der Bekenner und der Schriftsteller

tion kam der Widerwille aus Voltaires innerster Natur; wie andererseits, wenn
zuweilen Muthwille oder Leidenschaften seinen Ausdruck in’s Gemeine herabzo-
gen, die Schuld nicht am Stilisten, sondern am Menschen in ihm lag.“] N. zitiert
hier (mit marginalen Abweichungen) aus David Friedrich Strauß’ Voltaire.
Sechs Vorträge (1870, 217).
217, 16-19 Simplicität des Stiles]...] ist immer das Merkmal des Genies
gewesen, als welches allein das Vorrecht hat, sich einfach, natürlich und mit Nai-
vetät auszusprechen] Mit dieser Charakterisierung folgt N. dem Stilideal Scho-
penhauers und greift sogar wörtlich auf dessen Formulierungen zurück. Im
Kapitel 23 „lieber Schriftstellerei und Stil“ der Parerga und Paralipomena II
bezeichnet Schopenhauer den Stil als „die Physiognomie des Geistes“ (PP II,
Kap. 23, § 282, Hü 547) und kontrastiert „das Prägnante“ mit dem Prätentiösen,
,,Platte[n] und Seichte[n]“ (PP II, Kap. 23, § 273, Hü 535). Nachdrücklich erklärt
Schopenhauer, es sei „ein Lob, wenn man einen Autor naiv nennt; indem es
besagt, daß er sich zeigen darf, wie er ist. Ueberhaupt zieht das Naive an: die
Unnatur hingegen schreckt überall zurück. Auch sehn wir jeden wirklichen
Denker bemüht, seine Gedanken so rein, deutlich, sicher und kurz, wie nur
möglich, auszusprechen. Demgemäß ist Simplicität stets ein Merkmal, nicht
allein der Wahrheit, sondern auch des Genies gewesen. Der Stil erhält die
Schönheit vom Gedanken [...]. Ist doch der Stil der bloße Schattenriß des Ge-
dankens: undeutlich, oder schlecht schreiben, heißt dumpf, oder konfus den-
ken“ (PP II, Kap. 23, §283, Hü 550). So signalisieren gerade „Naivetät“ und
„Simplicität“ nach Schopenhauers Überzeugung den Wert eines Autors (PP II,
Kap. 23, § 283, Hü 548, 550).
Die „Geistlosigkeit und Langweiligkeit der Schriften der Alltagsköpfe“ hin-
gegen sieht Schopenhauer dadurch bedingt, dass ihnen der „Sinn ihrer eigenen
Worte“ selbst nicht klar ist: Da „der Prägestempel“ zu „deutlich ausgeprägten
Gedanken“, nämlich „das eigene klare Denken, ihnen abgeht“, produzieren sie
bloß „ein unbestimmtes dunkles Wortgewebe, gangbare Redensarten, abge-
nutzte Wendungen und Modeausdrücke“ (PP II, Kap. 23, § 283, Hü 552-553).
Ausdrücklich warnt Schopenhauer den Autor „vor dem sichtbaren Bestreben,
mehr Geist zeigen zu wollen, als er hat; weil Dies im Leser den Verdacht er-
weckt, daß er dessen sehr wenig habe, da man immer und in jeder Art nur Das
affektirt, was man nicht wirklich besitzt“ (PP II, Kap. 23, § 283, Hü 550). „Ein
guter, gedankenreicher Schriftsteller“ wird „sich stets auf die einfachste und
entschiedenste Weise ausdrücken; weil ihm daran liegt, gerade den Gedanken,
den er jetzt hat, auch im Leser zu erwecken und keinen andern“ (PP II, Kap. 23,
§283, Hü 551). Schopenhauers Maxime lautet: „Man brauche gewöhnliche
Worte und sage ungewöhnliche Dinge“; bei „deutschen Schriftstellern“ hinge-
gen konstatiert er - ähnlich wie später auch N. in UBI DS (220, 20 - 221, 8) -
 
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