Metadaten

Neymeyr, Barbara; Nietzsche, Friedrich; Heidelberger Akademie der Wissenschaften [Mitarb.]
Historischer und kritischer Kommentar zu Friedrich Nietzsches Werken (Band 1/2): Kommentar zu Nietzsches Unzeitgemässen Betrachtungen: I. David Strauss der Bekenner und der Schriftsteller, II. Vom Nutzen und Nachtheil der Historie für das Leben — Berlin, Boston: De Gruyter, 2020

DOI Seite / Zitierlink: 
https://doi.org/10.11588/diglit.69926#0256
Lizenz: Freier Zugang - alle Rechte vorbehalten
Überblick
loading ...
Faksimile
0.5
1 cm
facsimile
Vollansicht
OCR-Volltext
230 David Strauss der Bekenner und der Schriftsteller

hier Strauß’ Schrift ANG (3, 6-11), deren Wortlaut N. in verkürzter und leicht
modifizierter Form präsentiert. Strauß distanziert sich dort entschieden vom
Dogma der Unfehlbarkeit des Papstes, das er als Manifestation eines machtpo-
litischen Kalküls versteht: „Schon in dem Machtzuwachse, den die Beseitigung
Oesterreichs durch Preußen und die Bildung des Norddeutschen Bundes dem
Protestantismus zu bringen schien, hat der römische Katholizismus eine Auf-
forderung erkannt, seine ganze geistlich-weltliche Gewalt in der Hand des für
unfehlbar erklärten Papstes dictatorisch zusammenzufassen.“ Vgl. Exzerpte
aus ANG (KGWIII5/1), S. 349. - Damit rekurriert Strauß auf eine für die Lehre
der katholischen Kirche maßgebliche Entscheidung, die am 18. Juli 1870, also
drei Jahre vor der Publikation von N.s UBI DS, auf dem Ersten Vatikanischen
Konzil unter Papst Pius IX. getroffen worden war. Damals erhob man die Un-
fehlbarkeit des Papstes zum Dogma. - Gemeint ist mit dieser spezifischen Un-
fehlbarkeit (infallibilitas) eine Eigenschaft, die dem Papst als Stellvertreter
Christi und Nachfolger des Apostels Petrus zugesprochen wurde, wenn er ex
cathedra, mithin als Lehrer aller Christen, über Glaubens- oder Sittenfragen
entscheidet und diese als endgültig entschieden verkündigt.
Die evangelische Kirche lehnt prinzipiell jedwede Unfehlbarkeit lebender
oder verstorbener Personen oder Amtsinhaber ab, betrachtet auch die Reforma-
toren nicht als unfehlbar und sieht als Ausnahme allein Jesus Christus selbst
an. - Vor diesem Hintergrund erscheint es als Ausdruck einer durch theologi-
sche Grundierung verschärften Polemik, wenn N. an früherer Stelle von UB I DS
der „Philister-Kultur“ (205, 23), „deren Evangelium Strauss verkündet hat“
(205, 8-9), eine naive Selbstüberschätzung attestiert, die sogar bis zur Verabso-
lutierung der eigenen Institutionen und bis zu einem problematischen An-
spruch auf „ästhetische Unfehlbarkeit“ reiche (206, 6). Denn dadurch bringt er
den evangelischen Theologen Strauß selbst in eine Affinität zum katholischen
Dogma der Unfehlbarkeit, das von der evangelischen Kirche nicht akzeptiert
wird. Vgl. auch NK 205, 33 - 206, 7.
229, 24-30 „Dem Gegensätze zwischen dem alten Consistorial-
regiment und den auf eine Synodalverfassung gerichteten Be-
strebungen liegt hinter dem hierarchischen Zuge auf der ei-
nen, dem demokratischen auf der anderen Seite, doch eine
dogmatisch-religiöse Differenz zu Grunde.“] Zitat aus Strauß’
ANG 4, 6-11. Vgl. auch Exzerpte aus ANG (KGW III5/1), S. 349. - In der katholi-
schen Kirche versteht man unter dem ,Konsistorium4 die Plenarversammlung
der Kardinäle unter dem Vorsitz des Papstes. In der evangelischen Kirche fun-
giert das Konsistorium als oberste Verwaltungsbehörde, der die Leitung einer
Landeskirche obliegt. Konsistorien entstanden in der evangelischen Kirche im
16. Jahrhundert, um das landesherrliche Kirchenregiment auszuüben. In den
 
Annotationen
© Heidelberger Akademie der Wissenschaften