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Neymeyr, Barbara; Nietzsche, Friedrich; Heidelberger Akademie der Wissenschaften [Mitarb.]
Historischer und kritischer Kommentar zu Friedrich Nietzsches Werken (Band 1/2): Kommentar zu Nietzsches Unzeitgemässen Betrachtungen: I. David Strauss der Bekenner und der Schriftsteller, II. Vom Nutzen und Nachtheil der Historie für das Leben — Berlin, Boston: De Gruyter, 2020

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https://doi.org/10.11588/diglit.69926#0264
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238 David Strauss der Bekenner und der Schriftsteller

und nächste Objekt, an dem die wahre Bildung beginnt, die Muttersprache:
damit aber fehlt ihm der natürliche fruchtbare Boden für alle weiteren Bil-
dungsbemühungen. Denn erst auf Grund einer strengen künstlerisch sorgfälti-
gen sprachlichen Zucht und Sitte erstarkt das richtige Gefühl für die Größe
unserer Klassiker“ (KSA 1, 683, 24-30).
Im Kontrast zu diesem Anspruch entfaltet N. seine kulturkritischen Diag-
nosen, die er im vorliegenden Kontext auch auf die sprachlichen Depravatio-
nen im Journalismus fokussiert. So erklärt er im zweiten seiner nachgelassenen
Vorträge Ueber die Zukunft unserer Bildungsanstalten: „wer möchte [...] daran
zweifeln, dass alle Schäden unserer litterarisch-künstlerischen Öffentlichkeit
hier dem heranwachsenden Geschlecht immer wieder von Neuem aufgeprägt
werden, die hastige und eitle Produktion, die schmähliche Buchmacherei, die
vollendete Stillosigkeit, das Unausgegohrene und Charakterlose oder Kläglich-
Gespreizte im Ausdruck [...], kurz die litterarischen Züge unsrer Journalistik
ebenso wie unseres Gelehrtenthums“ (KSA 1, 681, 2-11).
235, 12-14 „ein Wahn, den sich und der Menschheit abzuthun,
das Bestreben jedes zur Einsicht Gekommenen sein müsste.“]
Vgl. dazu Strauß’ ANG 135, 22 - 136, 2. Vgl. Exzerpte aus ANG (KGW III5/1),
S. 352.
235, 15 des Scriblers] Im Englischen bezeichnet das Wort ,scribler‘ einen
Schreiberling. Vor N. verwendet bereits Schopenhauer den Begriff ,Skribler‘ in
diesem Sinne pejorativ für inferiore Autoren mit depravierter Sprache. (Vgl.
auch NK 221, 48.) Im CEuvre Schopenhauers lässt sich dieser Begriff mehrfach
belegen, insbesondere im Zusammenhang mit sprachkritischen Passagen der
Parerga und Paralipomena. Im Kapitel 24 „Ueber Lesen und Bücher“ ist die
Rede „von den nichtswürdigen Skriblern heutiger Jetztzeit“4 (PP II, Kap. 24,
§ 296, Hü 595). Als besonders aufschlussreich erweist sich Schopenhauers Text
„Ueber Schriftstellerei und Stil“, das 23. Kapitel der Parerga und Paralipomena
II. Hier kritisiert Schopenhauer die „Narrheit“ der „Skribler“ im Zusammen-
hang mit der von ihm „gerügten ,jetztzeitigen‘ Verschlimmbesserung der Spra-
che“ (PP II, Kap. 23, § 283, Hü 575). An anderer Stelle spricht er im Hinblick
auf die Grammatik sarkastisch von den „heutigen Verbesserer[n] jenes Kunst-
werks“ und etikettiert sie als „diese plumpen, stumpfen, klotzigen deutschen
Handwerksbursche[n] von der Skriblergilde“ (PP II, Kap. 23, § 289a, Hü 585).
Schon diese Attacke zeigt, dass Schopenhauers Kritik an den ,Skriblern4 vor-
zugsweise, wenn auch nicht ausschließlich auf sprachliche Depravationen im
zeitgenössischen Journalismus zielt. Noch deutlicher richtet sich seine Polemik
gegen die „Zeitungsschreiber“, wenn er die „Skribler“ als „Alltagsköpfe“ be-
zeichnet, die dilettantische, von Inkompetenz zeugende Versuche unterneh-
 
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