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Neymeyr, Barbara; Nietzsche, Friedrich; Heidelberger Akademie der Wissenschaften [Mitarb.]
Historischer und kritischer Kommentar zu Friedrich Nietzsches Werken (Band 1/2): Kommentar zu Nietzsches Unzeitgemässen Betrachtungen: I. David Strauss der Bekenner und der Schriftsteller, II. Vom Nutzen und Nachtheil der Historie für das Leben — Berlin, Boston: De Gruyter, 2020

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https://doi.org/10.11588/diglit.69926#0286
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260 Vom Nutzen und Nachtheil der Historie für das Leben

zeitgenössischen Geschichtsschreibung: im 6. Kapitel Leopold von Ranke, im
8. und 9. Kapitel einige Vertreter geschichtsphilosophischen Denkens, insbe-
sondere Hegel und Eduard von Hartmann. Aber er betrachtet sie vorwiegend
als Symptome einer „Zeitrichtung“ (246, 19).
In seinem Erfolgsbuch Philosophie des Unbewußten. Versuch einer Weltan-
schauung (1869) vollzieht Eduard von Hartmann eine Synthese aus wesentli-
chen Aspekten philosophischer Konzepte von Schopenhauer, Leibniz, Schelling
und Hegel. Indem sich N. in UBII HL kritisch mit diesem Buch auseinander-
setzte, griff er in die aktuelle Kontroverse ein, die sich an diesem Werk bereits
entzündet hatte. Eduard von Hartmann versuchte in seiner monistischen Meta-
physik die Extreme der logischen Idee bei Hegel und des erkenntnislosen Wil-
lens bei Schopenhauer in einer Einheit des Unbewussten aufzuheben, das Unlo-
gisches und Logisches, Reales und Ideales, Willen und Vorstellung zugleich
umfasst. In N.s persönlicher Bibliothek befand sich (neben drei anderen Bü-
chern desselben Autors) Eduard von Hartmanns Philosophie des Unbewußten.
Versuch einer Weltanschauung. Speculative Resultate nach inductiv-naturwissen-
schaftlicher Methode, 1869 (NPB 276). In N.s Nachlass-Notaten sind mehrfach
explizite Hinweise auf Hartmann zu finden (KSA 7, 647-650, 654-655, 659, 660).
Auch die erhalten gebliebenen Exzerpte zu Hartmanns Philosophie des Unbe-
wußten sind hier dokumentiert (NL 1873, 29 [51-52], KSA 7, 647-649; NL 1873, 29
[59], KSA 7, 654; NL 1873, 29 [66], KSA 7, 658).
Für N. als überzeugten Schopenhauer-Anhänger bot sich für die Konzep-
tion von UB II HL im Zusammenhang mit Eduard von Hartmanns Philosophie
des Unbewußten die zeitgenössische Pessimismus-Debatte als größerer Reso-
nanzraum an. Und wie bereits im Falle der Polemik gegen David Friedrich
Strauß’ Alterswerk Der alte und der neue Glaube in UB I DS ergab sich im Kon-
text von UB II HL durch Eduard von Hartmanns Philosophie des Unbewußten
erneut ein probates Medium für N., um durch die Attacke auf eine schon be-
kannte Persönlichkeit öffentlich auf sich selbst aufmerksam zu machen. - Da-
rüber hinaus lassen sich inhaltliche Korrespondenzen feststellen, durch die
sich N. zur Attacke nicht nur auf David Friedrich Strauß, sondern auch auf
Eduard von Hartmann provoziert sah: Letzterer habe Strauß’ philiströse Ten-
denzen durch den Kulturoptimismus seiner hegelianisierenden Geschichts-
konstruktionen potenziert, indem er über eine affirmative Einstellung zum Sta-
tus quo der Wirklichkeit hinaus sogar deren systematische Notwendigkeit zu
deduzieren versucht habe. Auf diese Weise habe Eduard von Hartmann trotz
seiner pessimistischen Überzeugungen systematisch solchen Auffassungen
Vorschub geleistet, die N. selbst entschieden kritisiert: „De facto verstärkt Hart-
manns Lehre sogar noch die Selbstzufriedenheit derer, die sich auf der Höhe
der Zeit wähnen und die Entwicklung vorantreiben, so viel es in ihren Kräften
 
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