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Neymeyr, Barbara; Nietzsche, Friedrich; Heidelberger Akademie der Wissenschaften [Mitarb.]
Historischer und kritischer Kommentar zu Friedrich Nietzsches Werken (Band 1/2): Kommentar zu Nietzsches Unzeitgemässen Betrachtungen: I. David Strauss der Bekenner und der Schriftsteller, II. Vom Nutzen und Nachtheil der Historie für das Leben — Berlin, Boston: De Gruyter, 2020

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https://doi.org/10.11588/diglit.69926#0291
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Überblickskommentar, Kapitel 11.3: Konzeption 265

bereits Barthold Georg Niebuhr in seiner Römischen Geschichte (1811-1832) mit
historischer Quellenkritik gearbeitet hatte, entwickelte Ranke dieses Verfahren
zu einer systematischen Methode weiter (vgl. Schnädelbach 1974, 43). Zu Ran-
kes geschichtswissenschaftlicher Methodik vgl. Vierhaus 1977, 63-76. - N. sieht
durch Ranke jedoch den Niedergang in ein epigonales Stadium repräsentiert,
weil er meint, dass Rankes Methodik der Grundtendenz dynamischen „Lebens“
nicht gerecht werde. In diesem Zusammenhang ist auch N.s Gerichtsmetapho-
rik aufschlussreich (vgl. dazu NK 286, 13-14 sowie NK 287, 1 und NK 304, 10-
13). Mit der gegen die historische „Krankheit“ gerichteten Hoffnung auf ein
authentisches, gesundes und zukunftsfähiges „Leben“ sucht N. später auch
den lebensverneinenden Pessimismus Schopenhauers und dessen „Resignatio-
nismus“ (KSA 1, 20, 4) zu überwinden. Diese Grundtendenz Schopenhauers kri-
tisiert N. vor allem an dessen Tragödientheorie (vgl. Neymeyr 2011, 369-391),
etwa im „Versuch einer Selbstkritik“, den er 1886 der Neuausgabe der Geburt
der Tragödie voranstellte.

11.3 Die Konzeption der Historienschrift
Als einzige der vier Unzeitgemässen Betrachtungen eröffnet N. seine Historien-
schrift mit einem programmatischen Vorwort, in dem er das übergeordnete
Thema der Unzeitgemäßheit exponiert. Hier artikuliert er Selbstzweifel und
Ambivalenzen im Hinblick auf die „unzeitgemäße“ Diagnose, mit der er sich
in eine Opposition zur dominierenden Zeitströmung bringt. Im zweiten Ab-
schnitt des Vorworts beruft sich N. leitmotivisch auf seine subjektiven „Empfin-
dungen“. Damit betont er die Schwierigkeit, einen objektiven Standpunkt zu
erreichen, von dem aus er - trotz der eigenen Zeitgenossenschaft - eine fun-
dierte Kritik an der Gegenwart entfalten kann. Im letzten der drei Abschnitte
spricht er von seinen „quälenden Empfindungen“ und von „Erfahrungen“, die
er „als ein Kind dieser jetzigen Zeit“ aus sich selbst „entnommen habe“ (247,
1-5). Schon am Ende des ersten Abschnitts bezeichnet N. diese „Empfindun-
gen“ selbst als „schmerzlich“ (246, 2), um dann gleich zu Beginn des zweiten
Abschnitts erneut zu betonen, sie hätten ihn „oft genug gequält“ (246, 4). We-
nig später folgt seine generalisierende Feststellung, „dass wir Alle an einem
verzehrenden historischen Fieber leiden und mindestens erkennen sollten,
dass wir daran leiden“ (246, 26-28).
Das methodische Problem, wie man als „Kind dieser jetzigen Zeit“ dennoch
„unzeitgemässe Erfahrungen“ (247, 5-6) mit ihr machen und die Epoche zu-
gleich von einem externen Standpunkt aus kritisieren kann, versucht N. da-
durch zu lösen, dass er sich selbst innerhalb einer historisch weit zurückrei-
 
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