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Neymeyr, Barbara; Nietzsche, Friedrich; Heidelberger Akademie der Wissenschaften [Mitarb.]
Historischer und kritischer Kommentar zu Friedrich Nietzsches Werken (Band 1,2): Kommentar zu Nietzsches "Unzeitgemässen Betrachtungen": I. David Strauss der Bekenner und der Schriftsteller, II. Vom Nutzen und Nachtheil der Historie für das Leben — Berlin, Boston: de Gruyter, 2020

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https://doi.org/10.11588/diglit.69926#0290
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264 Vom Nutzen und Nachtheil der Historie für das Leben

genen § 12 rekurriert: „Alle diese Betrachtungen sowohl des Nutzens, als des
Nachtheils der Anwendung der Vernunft, sollen dienen deutlich zu machen,
daß, obwohl das abstrakte Wissen der Reflex der anschaulichen Vorstellung
und auf diese gegründet ist, es ihr doch keineswegs so kongruirt, daß es über-
all die Stelle derselben vertreten könnte: vielmehr entspricht es ihr nie ganz
genau; daher [...] zwar viele der menschlichen Verrichtungen nur durch Hülfe
der Vernunft [...], jedoch einige besser ohne deren Anwendung zu Stande kom-
men“ (WWVI, § 13, Hü 69-70). Mit diesen Feststellungen bezieht sich Schopen-
hauer auf die von ihm in § 12 vertretene Auffassung, die Vernunft ermögliche
zwar strategische Planungen und soziale Interaktion, beeinträchtige zugleich
jedoch intuitives Handeln und künstlerische Konzeption. Insofern reflektiert
Schopenhauer im zitierten Kontext bestimmte Aspekte der Vernunft im Span-
nungsfeld von ,Nutzen4 und ,Nachteil4.
Im Horizont des späteren 19. Jahrhunderts zeugt N.s Historienschrift vom
Plausibilitätsschwund der Geschichtsphilosophie. Hegel hatte sie noch mit ei-
nem Totalitätsanspruch versehen und systematisch entfaltet, indem er in sei-
nem philosophischen Konzept eine mehrstufige geschichtliche Prozessualität
mit Überbietungscharakter konstruierte. N. formuliert in UB II HL allerdings
nicht nur eine Absage an die idealistische Geschichtsphilosophie Hegelscher
Provenienz, sondern auch Vorbehalte gegenüber einer positivistisch reduzier-
ten ,Historie4. Er kritisiert die vordergründige Fixierung auf Faktizität und den
vorschnellen Glauben an die Möglichkeit von ,Objektivität4. Außerdem betont
er, dass eine übertriebene Vergangenheitsorientierung Gefahren für das gegen-
wärtige ,Leben4 und für die Zukunft mit sich bringe. (Vgl. auch die Darlegungen
über UB II HL vor dem Horizont des Historismus in Kapitel II.7.)
Schon bald nach Hegels Tod im Jahre 1831 und trotz seiner weiterhin fun-
damentalen Wirkung war die geschichtsphilosophisch säkularisierte Theodizee
mitsamt ihrem idealistischen und optimistischen Fortschrittsdenken einem
pessimistischen Lebensgefühl und einer ihm entsprechenden negativen Inter-
pretation der Wirklichkeit gewichen. In seinem Frühwerk orientierte sich N.
noch an Schopenhauer, den er als Exponenten des Antihegelianismus betrach-
tete. Zusätzliche Bestätigung suchte N. in der Geschichtsskepsis Goethes, für
den die Geschichte ins Reich chaotischer Absurditäten gehört, und bei Grillpar-
zer, der ,Geschichte4 als bloßes Konstrukt und die angebliche „Macht der Ge-
schichte“ (309, 3) als Aberglauben entlarvt. (Zur „Macht der Geschichte“ bei
Grillparzer vgl. NK 309, 3.)
Leopold von Ranke gilt als Leitfigur der durch das Objektivitätsprinzip be-
stimmten modernen Geschichtswissenschaft im Gefolge des Historismus, und
zwar auf der Basis quellenkritischer Forschung, die der historisch-kritischen
Methode der Klassischen Philologie wesentliche Impulse verdankt. Nachdem
 
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