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Neymeyr, Barbara; Nietzsche, Friedrich; Heidelberger Akademie der Wissenschaften [Mitarb.]
Historischer und kritischer Kommentar zu Friedrich Nietzsches Werken (Band 1/2): Kommentar zu Nietzsches Unzeitgemässen Betrachtungen: I. David Strauss der Bekenner und der Schriftsteller, II. Vom Nutzen und Nachtheil der Historie für das Leben — Berlin, Boston: De Gruyter, 2020

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https://doi.org/10.11588/diglit.69926#0321
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Überblickskommentar, Kapitel 11.5: Stilistische Gestaltung 295

Neu-Ausgabe seiner Tragödienschrift voranstellt (KSA 1, 11-22), sieht er im
Rückblick auf seine wissenschaftsskeptische Kunstmetaphysik den Gestus der
Geburt der Tragödie von „lauter vorzeitigen übergrünen Selbsterlebnissen“ be-
stimmt, die „hart an der Schwelle des Mittheilbaren lagen“ (KSA 1, 13, 15-16).
Vorbehalte gegenüber wissenschaftlicher Rationalität, insbesondere angesichts
der positivistischen Prämissen in der Wissenschaftskultur der Epoche, prägen
sich auch im Grundansatz der Historienschrift aus. Brücken zur Tragödien-
schrift sind in der Tendenz zu einer Ästhetisierung der Historie zu erkennen:
Mit einer fiktionalisierenden Überformung der geschichtlichen Faktizität im In-
teresse des Lebens verbindet N. ein Plädoyer für den unhistorischen Habitus,
den er in der Historienschrift als Recht der Jugend reklamiert.
Um fortan die Publikumswirksamkeit seiner Veröffentlichungen zu stei-
gern, studierte N. gezielt die tradierten Rhetoriken (vor allem Aristoteles, Cice-
ro und Quintilian) und die zeitgenössischen Rhetorik-Lehrbücher von Richard
Volkmann, die er für seine eigenen Rhetorik-Vorlesungen heranzog und teil-
weise wörtlich abschrieb: vgl. Volkmanns Bücher Hermagoras oder Elemente
der Rhetorik (1865) und Die Rhetorik der Griechen und Römer in systematischer
Übersicht (1872). Hinzu kam N.s Vorliebe für die ,Buntschriftstellerei4 des Helle-
nismus und der Spätantike, eine literarische Sammelgattung, die auf die bunt
gemischte Präsentation von Wissenswertem zielte; auf diese Weise mischte
man auch die Darstellung philosophischer Traditionen mit Anekdoten und il-
lustrierenden Elementen (vgl. Diogenes Laertius, Aelian, Stobaios).
N.s Freund Erwin Rohde, der den Entstehungsprozess von UBII HL mit
korrigierenden Eingriffen begleitet hatte, nahm kurz nach dem Erscheinen der
Historienschrift am 24. März 1874 in einem langen Brief kritisch Stellung zu N.s
sprunghaftem Stil und zu den Inkonsistenzen im Duktus seiner Argumentation
(KGB II4, Nr. 525, S. 420-423). Damit folgte er einer ausdrücklichen Aufforde-
rung N.s (vgl. dazu KSB 4, Nr. 346, S. 202). Rohde moniert einen Mangel an
gedanklicher Kohärenz und attestiert N. außerdem eine Tendenz zu Katachre-
sen: „In der Anlage des Ganzen“ - so Rohde - „erkenne ich einen wirklichen
Mangel in dem 4. Abschnitt. Die so sehr richtige Bemerkung über den Gegen-
satz des Außen und Innen kommt zu p 1 ö t z 1 i c h, wie aus der Kanone geschos-
sen [...] Dabei bemerke ich nun einen Mangel, der die, von Fremden mir öfters
entgegengehaltne Schwierigkeit Deiner Bücher zum Theil verursacht. Du
deducirst allzu wenig, sondern überlässest dem Leser mehr als billig und
gut ist, die Brücken zwischen deinen Gedanken und Sätzen zu finden. [...] Es
fehlt der deutliche Zusammenhang“ (KGB II4, Nr. 525, S. 421). „Kurz, liebster
Freund, es wäre gewiß der Wirkung Deiner Bücher nicht nachtheilig, wenn Du
dich [...] dem gröbern Verständniß des theuren Publici, dem solche Gedanken
ja überdies erschrecklich fremd und paradox sind, mehr anbequemen wolltest.
 
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