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Neymeyr, Barbara; Nietzsche, Friedrich; Heidelberger Akademie der Wissenschaften [Mitarb.]
Historischer und kritischer Kommentar zu Friedrich Nietzsches Werken (Band 1/2): Kommentar zu Nietzsches Unzeitgemässen Betrachtungen: I. David Strauss der Bekenner und der Schriftsteller, II. Vom Nutzen und Nachtheil der Historie für das Leben — Berlin, Boston: De Gruyter, 2020

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https://doi.org/10.11588/diglit.69926#0325
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Überblickskommentar, Kapitel 11.6: Selbstaussagen Nietzsches 299

liert N. diese Einschätzung auch in einem nachgelassenen Notat mit dem Titel
„Vorreden und Nachreden“ (NL 1886-87, 6 [4], KSA 12, 232) und ergänzt
hier noch die insistierende Feststellung: „(Quod demonstratum est - )“ (ebd.).
Die mehrmaligen Hinweise auf den eigenen Genesungsprozess machen deut-
lich, wie sehr N.s Leiden an der „historische [n] Krankheit“ und seine Hoffnung
auf Gesundung auch durch autobiographische Erfahrungen geprägt war.
In einem Nachlass-Notat (NL 1873, 29 [88], KSA 7, 669-671), das N. für die
abschließende Passage zum 1. Kapitel von UB II HL verwenden wollte, betont
er, „dass die Weisen aller Zeiten so unhistorisch gedacht haben und dass durch
Jahrtausende von historischen Erlebnissen auch keinen [sic] Schritt breit
mehr Weisheit zu erlangen ist. Die folgende Untersuchung aber wendet sich
an die Unweisen und Thätigen, um zu fragen, ob nicht gerade unsre jetzige
Manier Geschichte zu treiben erst recht der Ausdruck schwacher Persön-
lichkeiten ist: während wir doch mit dieser Manier so weit als möglich von
jenem unhistorischen Betrachten und Weisewerden entfernt sind“ (NL 1873, 29
[88], KSA 7, 670). Hier sind Affinitäten zu Schopenhauers Ansichten über die
Relation zwischen Philosophie und Geschichte zu erkennen (vgl. dazu NK 258,
25-26 und NK 267, 17-22 sowie NK 285, 23-26, NK 292, 17-19 und NK 300, 3-9).
Zu N.s changierenden Perspektiven auf UB II HL trug in späteren Phasen
seines Schaffens auch die programmatische Neuorientierung bei, die ihn seit
Menschliches, Allzumenschliches zu einem historischen Philosophieren und
dann auch zu einer genealogischen Betrachtung moralischer Werte gelangen
ließ. Von veränderten Prämissen ausgehend, entwarf er 1878 in einem nachge-
lassenen Fragment einen skizzenhaften Rückblick auf seine eigene intellektu-
elle Entwicklung; dort charakterisiert er die „2. Phase“ als „Ve r s uc h die Au -
gen zu schliessen gegen die Erkenntniss der Historie“ (NL 1878, 27 [34],
KSA 8, 493).
In Menschliches, Allzumenschliches I betrachtet N. 1878, also nur vier Jahre
nach der Publikation von UB II HL, einen „Mangel an historischem Sinn“ sogar
dezidiert als den „Erbfehler aller Philosophen“: Beim Streben nach einer ver-
meintlichen „aeterna veritas“ sei ihnen nicht bewusst, „dass der Mensch ge-
worden ist, dass auch das Erkenntnissvermögen geworden ist“ (KSA 2, 24, 20-
31). N.s Quintessenz angesichts dieser Problematik lautet in Menschliches, All-
zumenschliches I: „Demnach ist das historische Philosophiren von jetzt
ab nöthig und mit ihm die Tugend der Bescheidung“ (KSA 2, 25,13-15). - Acht
Jahre später korreliert er in Menschliches, Allzumenschliches II historische Di-
mensionen dann sogar mit Perspektiven auf eine „Genialität der Menschheit“,
wenn er im Text 185 die folgende Einschätzung formuliert: „Genialität der
Menschheit. - Wenn Genialität, nach Schopenhauers Beobachtung, in der
zusammenhängenden und lebendigen Erinnerung an das Selbst-Erlebte be-
 
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