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Neymeyr, Barbara; Nietzsche, Friedrich; Heidelberger Akademie der Wissenschaften [Mitarb.]
Historischer und kritischer Kommentar zu Friedrich Nietzsches Werken (Band 1/2): Kommentar zu Nietzsches Unzeitgemässen Betrachtungen: I. David Strauss der Bekenner und der Schriftsteller, II. Vom Nutzen und Nachtheil der Historie für das Leben — Berlin, Boston: De Gruyter, 2020

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https://doi.org/10.11588/diglit.69926#0335
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Überblickskommentar, Kapitel 11.7: Historismus-Kontext 309

neutrale Bezeichnung für ein geschichtliches Denken zu reservieren und da-
durch der zeitgenössischen Konjunktur historisierender Betrachtung Rechnung
zu tragen. In diesem Sinne betrachtet Troeltsch Historismus und Naturalismus
als konträre, aber gleichermaßen berechtigte Manifestationen eines modernen
Wissenschaftsverständnisses. Denn die Fokussierung auf Ausdrucksformen
historischer Entwicklung biete eine geisteswissenschaftliche Alternative zu ei-
nem allein auf naturgesetzliche Kausalität gerichteten Forschungsinteresse.
Von dieser Einschätzung ausgehend, verwirft Troeltsch in seinem Werk Der
Historismus und seine Probleme nur den (seines Erachtens bereits überwunde-
nen) „schlechten Historismus“, den er als Entartung des Historismus und sei-
ner zukunftsweisenden Möglichkeiten versteht: „Wir sind vom schlechten His-
torismus genesen, der zum größten Teile [...] eine mißverstandene Angleichung
der Historie an die Einzelelemente, Allgemeingesetze, Reihenbildungen und
Notwendigkeiten der Naturwissenschaften war. Der Fluch des naturalistischen
Determinismus, mit dem er geschlagen war, [...] ist gelöst. Die künstelnde Abs-
traktheit, mit der man neben ihm Werte und Bedeutungen zu retten suchte,
weicht der logisch geklärten Anschaulichkeit [...]. Wir sind dem Leben zurück-
gegeben“ (Troeltsch 1922, 67).
Unabhängig vom „naturalistischen Zwange der naturwissenschaftlichen
Gesetzesabstraktion [...], werden wir wieder frei für die autonome und lebendi-
ge Wertsetzung und Wertschätzung [...], frei für die lebendige Auslese dessen,
was uns aus der Geschichte dafür vor allem bedeutsam erscheint, und von der
Masse des Gleichgültigen oder doch für uns Toten. Wir leben wieder im Gan-
zen, Beweglichen, Schöpferischen“ (ebd., 66). Zu den Charakteristika des „viel-
berufenen schlechten Historismus, der vielen mit dem historischen Denken
überhaupt heute eins zu sein scheint“, zählt Troeltsch auch Depravationen, die
an die Kulturkritik in UBII HL denken lassen. Denn schlechter4 Historismus
ist für Troeltsch „unbegrenzter Relativismus, spielerische Beschäftigung mit
den Dingen, Lähmung des Willens und des eigenen Lebens“, die auch „zu
Skepsis“ und „Ironie“ führen (in UB II HL vgl. 324, 21-30) oder ein indifferentes
„Alles-Verstehen“ fördern kann (Troeltsch 1922, 68). Zum Stellenwert von Ernst
Troeltsch im spezifischeren Kontext der Wirkungsgeschichte von N.s UB II HL
vgl. die ausführlicheren Darlegungen im folgenden Kapitel II.8.
Seit den 1920er Jahren wurde der Begriff ,Historismus4 zusehends aufge-
wertet und dann neutral oder sogar positiv als Bezeichnung für Manifestatio-
nen eines modernen Geschichtsdenkens gebraucht. So propagiert Friedrich
Meinecke 1936 in seinem zweibändigen Werk Die Entstehung des Historismus
mit Nachdruck ein positives Verständnis des Historismus-Begriffs. Er charakte-
risiert „das Aufkommen des Historismus“ als „eine der größten geistigen Revo-
lutionen, die das abendländische Denken erlebt hat“ (Meinecke 1936, 1). Zur
 
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